Interview mit Klemens Koschig Interview mit Klemens Koschig: "Die vierte Blütezeit"

Dessau-Rosslau/MZ - Klemens Koschig (parteilos), Oberbürgermeister der Stadt Dessau-Roßlau, hält eine Diskussion über den demografischen Wandel für dringend geboten. Die Szenarien, die die Projektgruppe des Bauhauses Dessau entwickelt hat, lösen aus seiner Sicht die damit verbundenen Probleme nicht. Mit ihm sprach Bärbel Böttcher.
Herr Koschig, das Szenarium geht davon aus, dass Dessau-Roßlau sowie die heutigen Landkreise Anhalt-Bitterfeld und Wittenberg die Stadt Anhalt bilden. Halten Sie dieses Gedankenspiel für Utopie oder zumindest diskussionswürdig?
Koschig: Solche Gedankenspiele sind unbedingt notwendig. Sie haben in Politik und Gesellschaft aber noch lange nicht den Stellenwert, den sie verdienen. Doch der demografische Wandel, verbunden mit einem enormen Wertewandel in Richtung Individualität, zwingt uns dazu. Allerdings erscheinen mir die Lösungsansätze der Projektgruppe des Bauhauses doch sehr utopisch.
Warum?
Koschig: Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Stadt gibt, die größer ist, als heute zwei Landkreise und eine kreisfreie Stadt. Es war schon schwierig genug, Dessau und Roßlau zu vereinen. Welche Probleme löst das Konstrukt? Leerstand und zu große Infrastruktur wohl nicht.
Was setzen Sie dagegen?
Koschig: Aufgabenteilung ist schon wichtig. Sie geht aus meiner Sicht mehr Richtung Regionalisierung. Denkbar wäre es, bestimmte hoheitliche Aufgaben der kreisfreien Stadt und Aufgaben der beiden Landkreise gemeinsam zu erledigen. Da gibt es einiges, wo heute schon richtig Geld gespart werden könnte. Ein Beispiel wäre eine gemeinsame Einsatzleitstelle für Feuerwehren und Rettungsdienste. Die klammen Kassen erfordern das. Aber freiwillig will da keiner so richtig ran.
Aus nachvollziehbaren Gründen halten viele Bürgermeister an ihren Besitzständen fest. Überspitzt gesagt: Jeder will seinen Bürgern möglichst alles bieten, was ja längst nicht mehr geht. Müsste das mit den Bürgern nicht viel offener diskutiert werden?
Koschig: Wie wollen Sie das machen? Gehen Sie mal in eine Bürgerversammlung. Da hören sie den Satz: Wir wissen ja, dass ihr kein Geld habt, aber das ist noch lange kein Grund, uns keins zu geben. Und jeder Kürzungsvorschlag stößt mindestens bei dem auf Widerstand, der dann betroffen ist.
Aber es muss trotzdem darüber geredet werden.
Koschig: Ja. Aber ich denke auch, wir müssen bei manchen Standards Abstriche machen. Wir leben auf einem wahnsinnig hohen Niveau, das wir nicht weiter finanzieren können. Nehmen wir den ländlichen Raum. Sicher muss in jeden Ort eine Straße führen - auch wenn dort nur noch drei Familien wohnen. Aber muss diese, wie heute gesetzlich vorgeschrieben, unbedingt zweispurig sein? Reicht es nicht aus, beispielsweise alle 100 Meter eine Ausweichstelle einzurichten? Oder wenn es wie früher einen Sandstreifen gibt? Da stoßen sie auf jede Menge Bedenkenträger. Andererseits denke ich, man kann die Dörfer nicht abhängen, wie es in dem Altmark-Szenarium beschrieben ist. Das ist mit der Verfassung gar nicht vereinbar. Bestimmte Garantien, die der Staat seinen Bürgern gibt, müssen auch in Gebieten gelten, wo nur noch wenige Menschen leben.
Aber bei der Infrastruktur sollten schon Abstriche gemacht werden?
Koschig: Ja, da stimme ich der Bauhaus-Gruppe ausdrücklich zu. Und das gilt nicht nur für die Straßen. Es muss beispielsweise auch möglich sein, die Wasserversorgung beziehungsweise die Abwasserentsorgung dezentral zu regeln. Aber - der Staat hat nicht das Recht, sich an irgendeiner Stelle ganz zurückzuziehen. Er hat bestimmte Formen der Daseinsvorsorge abzusichern. Zum Beispiel muss er jedem Kind - auch dem aus dem entlegensten Dorf - den Schulbesuch garantieren. Er muss diesem Kind aber auch zumuten dürfen, dass es dafür in der Stadt in einem Internat wohnt.
In den Szenarien übernehmen die Bürger selbst mehr Verantwortung. Halten Sie dies für einen denkbaren Weg?
Koschig: Das ist schon denkbar. Um bei dem Schul-Beispiel zu bleiben: Möglich wäre es, dass die Eltern selber organisieren, wie ihre Kinder in die Schule kommen, dass beispielsweise ein Vater in seinem Auto den Transport übernimmt. Die Kinder sollten dann aber so versichert sein, als ob sie in einem Schulbus säßen. Um solche, dem demografischen Wandel Rechnung tragende Regelungen zu treffen, müssen Gesetzgeber, Schulverwaltung und Eltern flexibler werden. Wobei die Eltern es derzeit noch am ehesten sind.
Es gab im Zuge der Gebietsreformen den Vorstoß, Dessau zur Kreisstadt eines größeren Kreises Anhalt zu machen. Woran ist das gescheitert?
Koschig: Das Problem liegt in der Finanzierung der Aufgaben, die ein Oberzentrum zu erfüllen hat. Wir hätten durch die Aufgabe der Kreisfreiheit unterm Strich nur noch die Hälfte der jetzigen Finanzzuweisungen erhalten. Und davon ginge dann die Hälfte als Kreisumlage ab. Und keiner konnte uns sagen, wie dann das Anhaltische Theater oder die Museen zu erhalten gewesen wären. Niedersachsen hat für die Aufgabe der Kreisfreiheit von Göttingen ein eigenes Gesetz verabschiedet. So ein Zeichen hat es aus Magdeburg nicht gegeben.
Aber das Anhaltische Theater wird in dem Szenarium gerettet. Freut sie das wenigstens?
Koschig: Das stand drin. Aber es wurde nicht gesagt wie. Und ob sich der Stadtrat von Anhalt dann mit dem Theater so identifiziert wie heute die Dessauer und Roßlauer, das ist doch fraglich.
Wo sehen Sie denn Dessau-Roßlau im Jahr 2050?
Koschig: Ich gehe davon aus, dass Dessau-Roßlau nach wie vor die größte Stadt der Region ist - mit 40 000 bis 50 000 Einwohnern (heute 85 000). Eine liebenswürdige Stadt, in der sich alle pudelwohl fühlen. Es ist der Bauhausstadt und den industriellen Kernen in der Region gelungen, ausländisches Kapital und ausländische Arbeitskräfte heranzuziehen. Genauso selbstverständlich wie in den Vereinigten Staaten arbeitet hier eine multinationale Gesellschaft. Wir sind in dem Dreieck Berlin - Leipzig - Magdeburg ein sich gut entwickelndes Zentrum. Anders gesagt: Dessau erlebt 2050 nach Reformation, Aufklärung und Bauhausepoche die vierte Blütezeit.