Industriegeschichte Industriegeschichte: Hettstedter Blech für Ground Zero
Halle (Saale)/MZ. - Ein dumpfes Grollen. Zischen, eine Dampfwolke. Ein metallisches Poltern, dann kracht es. Ein rotglühender Metallblock verschwindet im Spalt zwischen den riesigen rotierenden Walzen. Das Brauchwasser, das zur Kühlung über die tonnenschweren Rollen fließt, steigt als gewaltige Dampfwolke auf. So sieht es aus und klingt es, wenn das breiteste und modernste Umkehrwalzwerk der Welt arbeitet. Das breiteste und modernste Umkehrwalzwerk der Welt? Diese Aussage ist mehr als hundert Jahre alt, doch sie stimmt auf ihre Art bis heute. Eine lange, stolze Geschichte, die jeder herunterschnurren kann, der in Hettstedt mit diesem Dinosaurier des Industriezeitalters arbeitet.
"Wir haben das weltweit breiteste Warmwalzwerk für Kupfer und Kupferlegierungen", bestätigt Uwe Hirsemann, Bereichsleiter Blech bei MKM. Bis zu einer Breite von 4 000 Millimetern - die in der Branche übliche Maßeinheit - lassen sich hier Bleche walzen. Das war 1909 einzigartig, als die Anlage errichtet und wenig später in Betrieb genommen wurde, das ist es heute.
In einer Halle, deren Wänden und Decke jahrzehntelange Staubablagerungen Patina geben, steht die "Breite Umkehre", wie das Herzstück des Werkes allgemein genannt wird. Rund 150 Meter misst die komplette Walzanlage in der Länge, 35 Meter in der Breite - auch für die Ausmaße gilt der Dinosauriervergleich.
Gebaut wurde die Umkehre, um seinerzeit den wachsenden Bedarf an dicken und breiten Blechen für Schiffs- und Lokomotivbau zu decken. Gebraucht wird sie heute noch, um genau diese Halbzeuge herzustellen. "Kupferbasierte Werkstoffe haben eine besondere Korrosionsbeständigkeit", erklärt Maschinenbauingenieur Hirsemann und genau die ist gefragt, für Bleche, die in Meerwasserentsalzungsanlagen, in der Kaliindustrie, auf Schiffen, bei Kondensatoren, Mänteln um Schmelzöfen oder Wärmetauschern zum Einsatz kommen.
Wieder bewegt sich das heiße Metall scheppernd durch den immer schmaler werdenden Walzspalt. Ein etwa 20 Millimeter dickes Blech - Toleranzen liegen im Zehntelmillimeterbereich - entsteht aus dem etwa 300 Millimeter hohen Metallblock, der dafür zuvor auf 700 bis 1 000 Grad aufgewärmt wurde. Das ist die übliche Temperatur beim Warmwalzen. Auch für das sogenannte Kaltwalzen vorgesehenes Metall sollte besser niemand anfassen - als "kalt" gelten immerhin 300 bis 400 Grad.
Die genauen Bestandteile der Legierungen, die sie verarbeiten, behalten die Hettstedter für sich, denn eben das ist ihre Spezialität: entsprechend den Kundenanforderungen den richtigen Materialmix zu entwickeln. An dieser Stelle treffen sich Historie und Moderne. "Die Konstrukteure damals waren so gut, dass die Umkehre auch die heutigen Anforderungen noch problemlos wegsteckt", schwärmt Ingenieur Hirsemann. Was er nicht betont: Die Experten von heute sind so gut in Materialentwicklung und Auftragsausführung, dass die Hettstedter mittlerweile als Weltmarktführer gelten. Und daran wird sich vermutlich auch in Zukunft kaum etwas ändern.
Nur einschichtig wird normalerweise gewalzt, die nachfolgende Produktion ist damit dreischichtig ausgelastet. Eine Kapazitätsreserve, die Wettbewerber mutlos machen sollte. Abgesehen davon, glaubt niemand, das heute noch einmal ein so großes Walzwerk gebaut werden würde. Dafür brauchte es zweistellige Millioneninvestitionen, die sich in vertretbaren Zeiträumen schwerlich amortisieren ließen. Ganz zu schweigen vom Expertenwissen und der jahrzehntelangen Erfahrung in Hettstedt, die unersetzlich sein dürften.
Geholfen hat beides zweifellos bei einem der spektakulärsten Aufträge der letzten Jahre. Wer heute in New York das Denkmal für die Opfer des World Trade Centers besucht und die Metallplatten mit den eingefrästen Namen berührt, streicht über Metall, das durch die Breite Umkehre in Hettstedt gelaufen ist. "Im Oktober 2009 gab es die erste Anfrage aus Amerika", erzählt Bereichsleiter Hirsemann, "noch im selben Monat kamen von uns ein Angebot und Probelieferungen. Am Ende waren wir die Einzigen, die alle Kriterien erfüllen konnten." Was sich selbstverständlich anhört, war es mitnichten.
Die Messingsorte - eine spezielle Kupfer-Zink-Legierung - wurde eigens in Hettstedt entwickelt. Die Anforderung lautete, die Oberflächenbeschaffung so zu gestalten, dass sie bearbeitbar war, außerdem mussten die Bleche auch mechanischen Beanspruchungen gewachsen sein - sie sollten sich gleich mehrfach biegen lassen und dennoch eben bleiben. Wie das geschafft wurde? Über die Tüfteleien im Labor verliert Uwe Hirsemann kein Wort. "Wir haben eine Belegschaft mit hoher Erfahrung", lautet sein einziger Kommentar.
385 Bleche, jeweils genau 12,5 Millimeter dick, schwarz gefärbt und mit einem Gesamtgewicht von 125 Tonnen gingen schließlich auf die Reise über den großen Teich, mehr als eine Million Dollar Umsatz. Ob sich die Biegekanten wirklich exakt herstellen lassen, ohne die Oberfläche zu beeinträchtigen, das hatten die Walzwerker noch im Hettstedter Labor ausprobiert.
Dort werden immer wieder Mischungen entwickelt und geprüft. "Wir haben jede Menge Erfahrung und fangen nicht bei Null an, wenn wir einen Auftrag bearbeiten", verdeutlicht Hirsemann. "Wir wissen, dass auch die Veränderung eines relativ kleinen Anteils in einer Legierung große Auswirkungen haben kann", sagt der 53-Jährige. Über 90 Prozent des Vormaterials, das schließlich gewalzt wird, wird auch in Hettstedt gegossen.
Aus dem rotglühenden Block ist mittlerweile ein langes Blech geworden. Nicht ganz eben, aber das wird im wahrsten Sinne des Wortes ein paar Meter weiter gerichtet. An einer Maschine, die ebenfalls mehr als 50 Jahre zählt. Denkmäler in Aktion sozusagen, die noch dazu von einem Motor im Methusalemalter angetrieben werden. "Das Wichtige daran ist aber, dass hier nicht nur Denkmäler produzieren, sondern dass wir mit ihnen wirtschaftlich produzieren", macht der Bereichsleiter deutlich.
Doch wer nun denkt, in Hettstedt ist nur Museumstechnik am Werk, der hat sich gewaltig geirrt. Da gibt es neue Öfen - unerlässlich für eine temperaturgenaue Produktion -, Schleifmaschinen zur Oberflächenbehandlung, eine Wasserstrahlanlage vom Feinsten, selbstverständlich neben der alten auch eine neue Kaltrichtmaschine. Abgelöst werden die Dinosaurier dennoch nicht. Die leben länger als wir, meinen alle, die damit zu tun haben. "Wenn die Umkehre still gelegt wird, dann nicht weil sie zu alt wäre, sondern weil es den Bereich nicht mehr gibt" - so sagt es Uwe Hirsemann.