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Geschichte Geschichte: Zeitreise in die letzten Tage der DDR

Von STEFFEN REICHERT 26.01.2009, 16:50

Halle/MZ. - LEIPZIG / MZ - "Butter- und Brot-Geschäfte" nennt Mark Aretz seine tägliche Arbeit. Soll heißen: Er wird nicht wirklich reich dabei, aber er kann doch davon leben. Es sind "Butter- und Brot-Geschäfte", wenn alte und leerstehende Gründerzeithäuser aufgekauft, saniert und die einstigen Mietshäuser zu lukrativen Eigentumswohnungen aufgewertet werden.

Mark Aretz, Architekt aus Leipzig, mag diese Art von Geschäft. Nicht nur, weil er davon lebt, sondern auch, weil es ein Ritual gibt. Stets vor dem Baubeginn macht er sich auf, um Keller und Dachboden, Wohnungen und Abstellräume zu durchforsten. Aretz ist ein Jäger und Sammler. Er hat schon Fahnen aus dem Krieg von 1870 / 71 entdeckt, NVA-Uniformen und alte Hausbücher. Eben Dokumente, die von längst vergangenen Zeiten erzählen.

Vor einigen Monaten aber, als Aretz ein Haus im Leipziger Stadtteil Reudnitz übernahm, da entdeckte er etwas ganz anderes. Der Architekt stieß ín der Crottendorfer Straße im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses auf eine Wohnung, die einzigartig war. Sie war nicht leer und nicht bewohnt, nicht ordentlich, nicht aufgeräumt. Denn die Wohnung war offenbar seit fast 20 Jahren von niemandem mehr betreten worden. Ein junger Mann hat sie im Jahr 1989 kurz vor der Wende fluchtartig verlassen und war anschließend niemals wieder zurückgekehrt.

Aretz war von dem Fund wie elektrisiert. Ihm offenbarte sich eine "unberührte DDR-Wohnung". Auf dem Tisch stand eine verstaubte Flasche mit "Hit-Cola", es lag noch ein Dederon-Netz mit einst frischen Schrippen herum und eine Flasche "Klarer" zum Einheitspreis von 14,50 Mark / DDR. Der Architekt entdeckte auch eine Dose Fischpastete, "Saßnitzer Scombermix", dazu Zigaretten der Marke "Alte Juwel".

"Das schien alles so weit weg", sagt er, "und war plötzlich wieder da." Er hat die Wohnung zunächst versiegelt und schließlich alles fotografiert. "Nicht die Dinge an sich in der Wohnung waren das Ungewöhnliche, sondern diese Unversehrtheit nach so langer Zeit", so der Leipziger.

Der Mieter war damals ein 24 Jahre alter Mann. Aretz fand Vorladungen der Kriminalpolizei, ein Beschlagnahmeprotokoll eines Tonbandgeräts der Marke "Majak 202", Gläubigerschreiben von Sparkasse, Gebäudewirtschaft, Pfändungsschreiben und schließlich Haftentlassungsschreiben aus dem Frühjahr '89. Einen Briefwechsel mit Angehörigen, die dem 24-Jährigen mitteilten, dass er sich nicht mehr sehen zu lassen brauche. Und den holprig geschriebenen Brief eines Freundes, der ihm alles Gute wünscht.

Aretz weiß nicht, was aus dem Mann geworden ist. Er hat keine Ahnung, wann er sich aufgemacht hat in sein neues Leben. Die Spur verliert sich mit den letzten Postkartengrüßen im Juni 1989 - jener Zeit, als sich Zehntausende junge Leute aus der DDR auf nach Ungarn machen und nie wieder heimkehren. Der Architekt hat vor einiger Zeit den Sperrmüllcontainer bestellt und die ganze Einrichtung entsorgen lassen.