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Geschichte Geschichte: Vor 70 Jahren gab es den ersten Störfall

Von Alexander Schierholz 22.06.2012, 17:07

Leipzig/MZ. - Erst schießt eine Stichflamme empor. Dann sprüht brennendes Uran Funken, sechs Meter hoch. Das Feuer brennt zwei Tage lang. Schaum, Wasser und nasse Decken können es nicht ersticken. Die eilig herbeigerufenen Feuerwehrleute sind völlig ratlos: Ein solches Phänomen haben sie noch nicht erlebt. Als die Flammen schließlich von selber erlöschen, liegt das geheime Laborgebäude auf dem Gelände der Leipziger Universität in Schutt und Asche. Die Beteiligten kommen offenbar glimpflich davon; über gesundheitliche Schäden ist jedenfalls nichts überliefert.

Vor 70 Jahren, am 23. Juni 1942, ereignet sich in Leipzig der erste bekannte Störfall in der Geschichte der Kernkraft. Am Physikalischen Institut in der Linnéstraße experimentieren Wissenschaftler unter Leitung des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg mit einer so genannten Uranmaschine. Dreieinhalb Jahre zuvor hat Otto Hahn das Phänomen der Kernspaltung entdeckt - ein Prozess, der ungeheure Energie freisetzt. "Man wusste, man hat einen neuen Brennstoff zur Verfügung", sagt Prof. Jürgen Haase, Dekan der Physikalischen Fakultät. Nun geht es darum, ihn nutzbar zu machen.

Nach dem Zwiebelprinzip

Die Uranmaschine, an der im Auftrag Heisenbergs der Physiker Robert Döpel und seine Frau Klara arbeiten, ist eine Aluminiumkugel von rund einem Meter Durchmesser, aufgebaut nach dem Zwiebelprinzip: Schichten von Uran und schwerem Wasser wechseln einander ab. In der Mitte hängt eine Bariumkapsel als Neutronenquelle. Wird es gelingen, durch Kernspaltung per Neutronenbeschuss Energie zu erzeugen?

Mehrere Versuche sind notwendig, bis es klappt. Die Zusammensetzung und die Beschaffenheit der Stoffe sind dabei von Belang. Anfangs habe man mit Pechblende, einem radioaktiven Mineral, experimentiert, sagt Haase, "das hat nicht geklappt". Schon vor der Explosion vom 23. Juni 1942 gibt es mehrere Zwischenfälle. So verbrennt sich ein Werkstattmeister die Hand, als er im Auftrag Döpels zwei Esslöffel voll Uranpulver in die Maschine füllen will - es kommt auch da zu einem Feuer.

Dennoch haben die Forscher schließlich Erfolg: "Sie haben den Beweis erbracht, dass Nuklearenergie erzeugt werden kann", sagt der Kernphysiker Dietmar Lehmann, der lange an der Leipziger Uni tätig war. Die Uranmaschine, so Haase, sei so etwas wie der erste Kernreaktor gewesen: "Eine bahnbrechende Entwicklung. Leipzig war damals führend auf diesem Gebiet."

Als es zu dem Störfall kommt, sind die Versuche eigentlich schon so gut wie beendet. An jenem folgenschweren Tag im Juni 1942 ist die Uranmaschine mit 750 Kilogramm Uranpulver beladen. Die Bestände, über die Deutschland seinerzeit verfügt, sind begrenzt - meist stammt der Stoff aus Minen in Belgisch-Kongo oder in der besetzten Tschechoslowakei.

Ein Mitarbeiter Döpels öffnet einen Einfüllstutzen der Maschine. Luft dringt ein, es bildet sich hochexplosives Wasserstoffgas. "Wie in Fukushima", sagt Dekan Haase. Der Apparat geht explodiert, das wertvolle Uran verbrennt. Und mit ihm die Ambitionen der Wissenschaftler um Heisenberg, eine neue Energiequelle zu erschließen.

Und eine neue Waffe für Hitler zu bauen. Denn das deutsche Uran-Projekt, zu dem auch das Forschungsvorhaben in Leipzig zählt, ist zuallererst eine militärische Kommandosache. Sie wurde vom Heereswaffenamt ins Leben gerufen - nach der Entdeckung der Kernspaltung. Das Ziel: auch die militärischen Nutzungsmöglichkeiten der Kernenergie zu ergründen. Kurz: die Atombombe zu entwickeln.

Theoretisch zumindest sind Heisenberg und seine Leute nah dran an der Bombe. "Die geistige Leistung war erbracht", so formuliert es Dekan Haase, "man wusste, dass es funktionieren würde." Und wie: Im Sommer 1941 meldet der Physiker Carl-Friedrich von Weizsäcker, einst Schüler, nun Mitstreiter Heisenbergs im Uran-Projekt, ein Konzept zur Erzeugung waffenfähigen Plutoniums zum Patent an.

Nach Versuchen weiter Weg

Praktisch allerdings war es von den Versuchen in Leipzig bis zur Bombe doch noch ein weiter Weg, wie Haase sagt: "Dazu wären größere Anstrengungen nötig gewesen, man hätte zum Beispiel angereichertes Uran gebraucht." So teilen die Wissenschaftler des Uran-Projekts dem Heereswaffenamt schließlich mit, man benötige noch mehrere Jahre, um Atomwaffen zu entwickeln. Das Militär zieht sich daraufhin 1942 zurück und übergibt das Projekt zivilen Stellen. Für die Kernenergie-Forschung ist fortan das Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin zuständig. Im Herbst 1942 wird Heisenberg als Direktor dorthin berufen.

Nach Einschätzung Haases ist Nazi-Deutschland zu spät gekommen. "Gott sei Dank", sagt der Physik-Dekan. "Gott sei Dank waren die Nazis so dumm, dass sie die führende Stellung Deutschlands in der Physik in den 1930er Jahren nicht erkannt haben. Das sage ich auch immer meinen Studenten." Stattdessen habe das faschistische Regime die neue Physik bekämpft. "Wäre es anders gewesen, wäre man bei der Bombe vielleicht schneller voran gekommen." Stattdessen haben die Amerikaner die Nase vorn.

Die Wissenschaftler des deutschen Uran-Projekts setzen ihre Forschungen vor Kriegsende in Südwestdeutschland fort, in Haigerloch und Hechingen. Als Nazideutschland besiegt ist, werden Werner Heisenberg, Otto Hahn und acht weitere Forscher von Juli bis Dezember 1945 auf dem Landsitz Farm Hall in England interniert. Dort erfahren sie am 6. August vom Abwurf der amerikanischen Atombombe über Hiroshima. Hahn, als Entdecker der allem zugrunde liegenden Kernspaltung, ist schockiert. Nach Abhörprotokollen des britschen Geheimdienstes soll er sich mitverantwortlich gefühlt haben für die hunderttausenden Toten.

Von Heisenberg dagegen sind zwiespältige Reaktionen überliefert: Einerseits soll er sich erleichtert gezeigt haben, dass die Bemühungen der Deutschen nur für die Entwicklung eines Reaktors reichten. Andererseits soll er sich geärgert haben, dass nicht sein Team, sondern die Amerikaner es bis zur Bombe schafften.

An den Störfall vor 70 Jahren erinnert die Uni Leipzig mit einer Sonntagsvorlesung am 24. Juni von 10 bis 13.30 Uhr, Linnéstraße 5, Großer Hörsaal