Ehemalige Straftäter Ehemalige Straftäter: Doppelte Moral in Insel

Insel/MZ. - Das Drama von Insel, es hat nicht erst vor einem Jahr begonnen, als die beiden wegen Vergewaltigung verurteilten ehemaligen Häftlinge in das Altmarkdorf gezogen sind. Das Drama hat sechs Jahre vorher begonnen, auch mit einem Sexualverbrechen. Zwölf Jahre war das Mädchen damals alt, als sich ein Mann auf dem Spielplatz an ihr verging. Der Täter, später verurteilt wegen schweren sexuellen Missbrauchs, stammt aus dem Ort. Jeder dort kennt ihn.
Seine Tat ist ein Tabuthema in Insel. Verdrängt. Verdreht. Damals. Und heute. Was die Vergewaltigung von 2005 mit dem Konflikt um die beiden aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Männer zu tun hat? Gar nichts, sagt eine Frau, die ihren Hund spazieren führt. „Die beiden damals waren doch ein Liebespaar.“ Eine Zwölfjährige und ein junger Erwachsener, ein Liebespaar. So einfach ist das in Insel. Der Einwand, der Mann sei verurteilt worden, zieht nicht bei der Hundehalterin: „Sie wissen doch, wie das ist“, sagt sie mit verschwörerischer Stimme, „das Mädchen will nicht mehr, der Mann will aber noch“. Dann sei es halt „so hingedreht worden“ als Vergewaltigung. Eine andere Einwohnerin will sich an nichts erinnern können: „Ich wohne seit 1999 hier, aber davon weiß ich nichts.“ Schwer vorstellbar bei einem Verbrechen, das seinerzeit Gesprächsthema Nummer eins war in dem 400-Einwohner-Ort.
Morddrohung per Brief
Waltraud Klingbeil platzt der Kragen, wenn sie das hört. Die 70-Jährige sitzt im Wohnzimmer ihres flachen Hauses aus roten Ziegelsteinen, das sich in die leicht hügelige Landschaft duckt. Sie gehört zu den wenigen Frauen im Dorf, die sich um die beiden ehemaligen Sicherheitsverwahrten kümmern. Sie besuchen sie ab und an, helfen ihnen bei Papierkram. Waltraud Klingbeil hat anonyme Briefe erhalten deswegen, in denen sie als Schlampe beschimpft wird. Jemand hat ihr gedroht, sie umzubringen und ihr Haus anzuzünden. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt. Waltraud Klingbeil hat eigentlich genug. „Ich will, dass endlich Ruhe einkehrt.“ Aber nun redet sie sich noch einmal in Rage. Es regt sie auf, wie manche mit zweierlei Maß messen. Da der Sexualstraftäter aus dem Dorf, der angeblich keiner gewesen sein soll. Dort die beiden im vorigen Jahr aus Baden-Württemberg zugezogenen Sexualstraftäter, die wegziehen sollen. „Das ist Doppelmoral!“ schimpft die Rentnerin.
Vordergründig wirkt alles friedlich in Insel. In der Nähe des Hauses der beiden Männer stehen Absperrgitter, als hätte sie jemand vergessen. Keine Transparente in den Vorgärten. Keine Streifenwagen auf den Straßen. Nur ein einsamer Polizeibus parkt in einer Hofeinfahrt. Doch Insel ist gespalten. Da ist die Bürgerinitiative, die seit einem Jahr den Wegzug der Männer erreichen will. Und da sind Menschen wie Waltraud Klingbeil. Die Mitglieder der Bürgerinitiative, sagt sie, „die grüßen mich nicht mehr, es sei denn, ich treffe mal einen von ihnen allein“. Sie könne damit leben, sagt sie. Und schiebt nach: „Aber es ist schwer. Ich wohne seit 40 Jahren hier.“
Was beide Seiten tun: Sie warnen voreinander. Wer Klingbeil nach anderen Gesprächspartnern im Dorf fragt, erhält bereitwillig Auskunft. Und den Hinweis: „Sagen Sie bitte nicht, dass Sie bei mir waren.“ Eine andere Frau fragt am Ende des Gesprächs: „Sie gehen aber nicht zu Frau Klingbeil, oder?“
Am Montagabend hat der Ministerpräsident versucht zu vermitteln. Dorfgemeinschaftshaus. 90 Bürger. Zwei Stunden. Reiner Haseloff hat wolkig ein neues „Sicherheitskonzept“ für Insel angekündigt. Was das bedeuten soll, wie das aussehen soll, niemand weiß es. Waltraud Klingbeil war nicht dabei am Montagabend. „Die Bürgerinitiative hat es uns verboten.“ Sie legt Verachtung in ihre Stimme: „Wer hier für die Menschenrechte ist, war nicht willkommen.“ Es gibt keine Zwischentöne in Insel. Es gibt nur schwarz und weiß.
Bitte keine Interviews
Die Bürgerinitiative sagt zu all dem nichts. Ihre Vertreter sind abgetaucht. Da ist die Frau, die sich in den vergangenen Monaten stark engagiert hat, nun aber kein Interview mehr geben will, aus Angst falsch verstanden zu werden. Und da ist Nico Stiller, der Sprecher der Initiative. Vor ein paar Wochen hat der Mittdreißiger beklagt, es werde immer nur über die Dorfbewohner gesprochen, aber nie mit ihnen. Nun will auch Stiller nicht mehr sprechen: Mehrere Rückrufbitten lässt er ins Leere laufen. Vielleicht denken sie in der Bürgerinitiative nach über neue Protestaktionen. Vielleicht hat sie aber auch die Nacht zum 2. Juni ins Grübeln gebracht. Damals hatten rund 50 Einwohner und Neonazis versucht, das Haus der Männer zu stürmen. Zuvor war der jüngere der beiden wieder nach Insel zurück gezogen, nachdem die „Bild“ seine neue Wohnung in Chemnitz öffentlich gemacht hatte.
Jene Nacht hat den Scherbenhaufen in Insel wieder aufgetürmt. Dabei hatten sie doch schon angefangen aufzuräumen. Zweimal hat Christoph Hackbeil, der Regionalbischof der Evangelischen Landeskirche, einen runden Tisch im Dorf moderiert. Mit Mitgliedern der Bürgerinitiative. Mit Unterstützern der Männer. Gemeinsam haben sie überlegt, wie man eine Linie bringen kann in den Alltag der Ex-Häftlinge. Ob es Beschäftigung für sie geben kann, vielleicht mit Hilfe eines Vereins oder der Kirche. „Resozialisierung“, meint Hackbeil, „ist die beste Möglichkeit, dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen Rechnung zu tragen“. Sie waren, sagt der Theologe, kurz von einem Konsens. Dann hat die versuchte Stürmung des Hauses alles und alle überrollt. „Jetzt muss man noch einmal von vorne anfangen.“
„Für uns ist das einfach“
Wie? Wieder ein runder Tisch? Eine andere Form? Hackbeil überlegt. Er sitzt in seinem Büro in Stendal, eine Grünanlage vor der Tür, unweit der sanierten Altstadt. Ruhig ist es, friedlich. Der Konflikt ist weit weg. „Für uns ist das ja einfach“, sagt er schließlich. „Wir reiten da ab und zu ein und geben Ratschläge. Aber die Menschen im Dorf müssten wieder miteinander reden.“
Die Maßstäbe dafür, aus seiner Sicht, sind klar: Die Einwohner müssten sich von der Illusion verabschieden, die beiden Männer würden wegziehen. „Es muss sich die Erkenntnis durchsetzen, dass sie mit ihnen leben müssen.“ Und: Die ehemaligen Häftlinge dürften nicht auf ihre Verbrechen reduziert werden. „Sie bleiben neben ihren Taten immer noch Menschen.“Das Problem: Das sind Maßstäbe, die nicht alle in Insel anlegen.