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Dorfleben Dorfleben: Der Zirkus der Neubürger

Von WOLFRAM BAHN 21.05.2010, 19:36

LOCHWITZ/MZ. - Matthias Augustin kann sich noch genau an den Tag vor 13 Jahren erinnern, als er sich zum ersten Mal im Auto dem Ort Lochwitz näherte. Vor sich erblickte er den eingefallenen Giebel einer alten Scheune. "Das ist es", rief er spontan aus. "Hier sind wir richtig." Was andere eher abgeschreckt hätte, das zog den heute 49-jährigen Hallenser und seine Frau an. Sie wollten raus aus der lärmenden Großstadt, "dorthin, wo Dörfer noch richtige Dörfer sind, wo das Leben noch ursprünglich ist und wo unsere Kinder unbeschwert im Grünen aufwachsen können."

Damit umreißt Augustin die Beweggründe von fünf halleschen Familien, die sich damals bewusst für das Land und gegen den heute spürbaren Trend hin zur Großstadt entschieden haben. Auch nach Elben, das in der Nähe liegt, und andere ähnlich abgeschiedene Ortschaften in der Region zog es Hallenser. In Lochwitz haben die Neu-Bürger gemeinsam mit den Einheimischen sogar ein Pfingstfest wiederbelebt, das wegen seines besonderen Charakters heute so etwas wie Kultstatus genießt.

Seit dem Auftauchen der Hallenser hat sich auch sonst in dem Ort im Schlenzetal, der etwa 30 Kilometer von Halle entfernt liegt und kaum 100 Seelen zählt, eine Menge verändert. "Plötzlich war der vorher wie ausgestorben wirkende Ort voller Kinder", erzählt Marion Augustin. Sie war froh, dass sie ihre Sprösslinge zum Spielen losziehen lassen konnte, ohne Angst zu haben. "Wir haben alle ein Auge auf sie", so die vierfache Mutter. "Es ist immer was los", bestätigt ihr 13-jähriger Sohn Till, der am liebsten mit dem Fahrrad die hügelige Gegend um Lochwitz erkundet.

Er ist einer von etwa 15 Mädchen und Jungen, die einen Kinderzirkus aus der Taufe gehoben haben, der immer zu Pfingsten ein Programm darbietet. "Wir wollten irgendwas Besonderes machen, wo das ganze Dorf zusammenkommt", sagt Matthias Augustin, der auch die Konzerte in der halleschen Szene-Kneipe "Objekt 5" organisiert. Seine Kontakte nutzt er, um bekannte Bands oder Musiker zum Lochwitzer Pfingstfest zu holen.

Vor sechs Jahren haben Augustin und seine Mitstreiter nach 35 Jahren Pause auch wieder ein kleines Fest zum Kindertag in Lochwitz auf die Beine gestellt. Nicht nur deshalb ist Sigrid West froh, dass es die Hallenser in ihr Dorf verschlagen hat. "Vorher war doch hier tote Hose", räumt die 53-Jährige ein. Sie war mit ihrer Familie 1977 von Gerbstedt nach Lochwitz gezogen. Da gab es noch die LPG, die längst abgewickelt ist.

Nach der Wende machte der Konsum zu, die Kneipe war schon dicht. Und die Tradition des Pfingstfestes war vor langer Zeit eingeschlafen. "Die Städter haben unseren Ort zu neuem Leben erweckt", sagt West. Sie bedauert aber, dass nicht alle Einwohner mitziehen und manche in ihren vier Wänden bleiben.

Die Leute im Mansfeldischen seien nicht einfach "zu knacken", sagt Matthias Augustin ohne Groll. Den Schritt, in die Abgeschiedenheit zu ziehen, hat er nie bereut. Trotz mancher Vorbehalte sei man mit den Einheimischen zu einer echten Dorfgemeinschaft zusammengewachsen. Von Haus aus Elektriker, Krankenschwester oder Kurierfahrer stecken die Neu-Lochwitzer viel Kraft und Zeit in den Ausbau ihrer Häuser. Aus ökologischen Gründen greifen sie auf die althergebrachte Lehmbauweise zurück. Alles soll so ursprünglich bleiben, wie es einmal war, so Augustin.

Der Vierseitenhof, den er und seine Frau von der Treuhand erwarben, sah anfangs kaum besser aus als die alte Scheune am Dorfeingang. Ein Brand nach dem Krieg hatte einen Teil des Gehöfts vernichtet. Augustin brauchte zwei Jahre, um das Gebäude halbwegs bewohnbar zu machen. Wie alle Häuser der Neubürger steht auch das unter Denkmalschutz. Gewerkelt wird bis heute in all den Gehöften, die die früheren Städter in Lochwitz erworben haben.

Eines Tages ist der Sohn des einstigen Hofbesitzers, der 1947 in den Westen gegangen war, bei Augustin aufgetaucht. Der Gast wollte das Grundstück nicht zurück haben. Er freute sich vielmehr, dass jemand sein Gehöft wieder aufbaut und damit ein Stück Familiengeschichte erhalten bleibt. Auch den gelernten Ofenbauer Michael Sandberg, ein Freund von Augustin, hat es aufs Land verschlagen. Er ist nach Dobis in den Saalekreis gezogen. Das Dorf, das zur Stadt Wettin gehört, ist ein Flächendenkmal. "Da darf nichts Neues gebaut werden", sagt Sandberg. Weiter als 25 Kilometer wollte der 39-Jährige allerdings nicht von Halle wegziehen. "Schließlich will man ja auch mal ins Kino gehen", so Sandberg, der heute als freischaffender Künstler arbeitet.