Doppelgänger Doppelgänger: Honeckers Stellvertreter auf Erden
Bitterfeld/MZ. - Einmal hat er sogar direkt neben ihm gestanden. Kurt Schmidt schaute bei der Gelegenheit aber weniger auf den Mann, der sein ganzes Leben bestimmen würde. Sondern mehr auf die Frau neben ihm. "Die Margot", sagt er heute, "das war schon eine Hübsche". Die Margot hieß damals noch Margot Feist. Erich Honecker, der Mann an ihrer Seite, war Chef der Jugendorganisation FDJ. Und Kurt Schmidt, der junge Bäckermeister aus Zeitz, der zum Deutschlandtreffen der Jugend nach Berlin gefahren war, wurde nicht darauf hingewiesen, dass er wie Erich Honecker aussieht.
Das ging später los, erinnert sich der 91-Jährige. Die Kollegen haben geflüstert und manchmal auch derbe Scherze gemacht. Richtig ernst wurde der Spaß aber erst, als der Mann, der heute seinen 100. Geburtstag feiern würde, aus dem Amt gejagt worden war. "In einem Urlaub haben sich die Leute mit mir fotografieren lassen, um dann zu Hause zu erzählen, sie haben den Honecker getroffen", erzählt Kurt Schmidt, der im Gegensatz zum echten Erich mit dunkler Stimme spricht und an den Wortenden keine Silben abbeißt, um sie zu verschlucken.
Es ist der Beginn einer seltsamen Karriere für den gebürtigen Leipziger, der in Webau bei Hohenmölsen aufwuchs. Schmidt ist neun Jahre jünger als Honecker, aber er hat die Erich-Nase, den Erich-Mund, die hohe Erich-Stirn und diese leicht dreieckige Gesichtsform, die der Saarländer seinem Volk über mehr als ein Jahrzehnt hinweg als Wandbehang in jedem Schul- und Amtszimmer präsentierte.
Nach dem Urlaub damals hat Schmidt die Ähnlichkeit zum Job gemacht. Er hat sich einen Trevira-2000-Anzug gekauft, eine große Brille aus DDR-Produktion (Modell 10718) und so ein Hütchen, wie der echte Erich es immer trug. "Sein Gequatsche habe ich aber nicht gelernt", sagt er, das sei ihm zu blöd gewesen. Nur eine Rede hat er sich ausgedacht, mit "liebe Genossinnen und Genossen" am Anfang. Die wurde gehalten, wenn sich der Kunde nicht selbst etwas ausgedacht hatte. In der kam auch Honeckers berühmte Übersetzung des Namens DDR ins Honeckersche vor: "Deutsche Demokrattsche Replik", sagt Kurt Schmidt. Er lacht. Klappt immer noch.
Schmidt, der Rentner aus Wolfen, kommt als stellvertretender Erich Honecker beinahe um die ganze Welt. Er sitzt in TV-Studios, steht neben Udo Lindenberg auf der Bühne, posiert in Discos, rockt mit Go-go-Girls und bewirbt einen Schnaps namens "Erichs Rache".
Schmidt ist jetzt im Showbusiness. Ein Leben wie im Traum, ein Leben aber auch, von dem er nie geträumt hatte. Kurt Schmidt interessiert sich eher für Geschichte und für Fotografie, seit er elf ist, führt er Tagebuch, seine Schrift ist steil und bestimmt - kein Graphologe würde darauf tippen, dass der Schreiber den Wunsch verspürt, ein anderer zu sein.
Das war es auch nicht. Kurt Schmidt hat Erich Honecker respektiert, sagt er, "der war nun mal der erste Mann im Land". Aber bewundert? Nein, hingenommen habe er ihn wie alle, sagt er. "Der hatte sein Leben, ich hatte meins."
Bis beide spät und völlig unerwartet zusammenfallen, hat Schmidt genug mit seinem eigenen zu tun. Das führt ihn mit 16 nach Nürnberg, wo er zum ersten Mal in die Nähe der Mächtigen gerät. "Himmler, Hitler, Goebbels, alle waren sie in den Hotels", erinnert er sich. Wenn Schmidt morgens mit seinem Brötchenfahrrad kommt, steht die SS-Wache vor dem Eingang. Schmidt ist das Brimborium unheimlich, unheimlich wie die Aufmärsche auf dem Reichstagsgelände. "Ich hatte eine Aversion dagegen", erzählt er, "deshalb war ich auch nicht bei der HJ." Als ihm mal eine ganze Ladung Brot in den Schmutz fällt, reibt er die Kruste mit Spucke sauber und hofft anschließend, "dass der Goebbels den Dreck mitfrisst."
Der ohnmächtige Widerstand des kleinen Mannes, den die große Politik treibt, wohin sie will. Kurt Schmidt, der Honecker der Nach-Honecker-Ära, ist ein Jahrhundertzeuge in eigener Sache. Während der Original-Erich im Zuchthaus Görden sitzt, landet sein Double in einer Küstenbatterie der Marine. Schmidt führt Krieg in Polen, Holland und Frankreich. "Sechs Schichten hoch kamen die Bomber bei der Invasion", erinnert er sich, "und ein Kamerad, der auf die Nachricht wartete, dass er Vater geworden ist, starb ein paar Minuten, bevor das Telegramm eintraf." Kurt Schmidt hat Tränen in den Augen. Das schmale Honecker-Lächeln, das er im Normalfall mitbenutzt, ist weggewischt. Nur überleben, habe er damals gedacht, egal wie.
Bei Kriegsende dümpelt er auf einem Schiff auf der Flucht nach Westen. "Als wir erfuhren, dass es vorüber ist, haben wir alle gejubelt." Es folgt der Marsch in die britische Gefangenschaft und die Entscheidung, trotz der Russen zurück in den Osten zu gehen. "Mir war sympathisch, wie dort mit den Nazis aufgeräumt wurde."
Kurt Schmidt wird Chef einer Bäckerei in Zeitz und sechsmal Vater. Nach dem Tod seiner Frau folgt er einer neuen Liebe nach Wolfen. Im Chemiekombinat wird "Brot, Wohlstand und Schönheit" hergestellt, wie es hieß. "Und bezahlt wurde auch besser." Schmidt beginnt zu fotografieren, wird Zirkelleiter im Klubhaus, es geht ihm gut. "Ich habe mit der DDR nichts abzumachen", sagt er.
Sein Honecker war deshalb auch nie gehässig. "Ich habe mich gefreut, wenn die Leute sich freuten." Und wie sie das taten! "Diese Blitzlichtgewitter immer", schwärmt Schmidt. Fast blind geworden sei er dabei. Vor ein paar Jahren war das ganz schlimm, immer war irgendwo Ossi-Party. Das habe aber nachgelassen, sagt Kurt Schmidt, erst langsam und dann richtig.
Statt fünf Auftritte pro Woche gab es nur noch einen, dann keinen mehr. Seinen Kindern sei das recht gewesen, "die fanden die Idee nie gut, dass ich das mache." So schlecht, dass sie nicht mitgefahren wären, wenn Erichs Stellvertreter auf Erden nach Köln oder München musste, fanden sie es aber meist auch nicht.
Trotzdem, selbst zum 100. des Originals kamen keine Angebote mehr. Die Ossi-Partys haben sich überlebt. Schmidt sagt, ihm reiche es auch. Die Kriegsverletzung im Oberschenkel quält ihn jetzt häufiger, es geht mit dem Laufen nicht mehr so gut. "Nein, ich muss nicht mehr den Erich machen", sagt er und spendiert sich ein Honecker-Lächeln. Die Geschichte ist vorbei und erledigt. Erich ist tot und fast vergessen. Nur ganz unten im Regal steht noch ein letztes Päckchen Schnäpschen mit "Erichs Rache".