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Der Weg zur deutschen Einheit Die letzten Meter im Hotel Oktober: Zwei plus Vier macht eins

Nur drei Wochen vor dem festgelegten Vereinigungstag macht die letzte Verhandlungsrunde der beiden deutschen Staaten mit den Siegermächten den Weg zum Beitritt frei.

Von Steffen Könau Aktualisiert: 12.09.2025, 10:42
 Die Unterzeichner des Zwei-plus-Vier-Vertrages feiern mit einem Glas Sekt den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen.
Die Unterzeichner des Zwei-plus-Vier-Vertrages feiern mit einem Glas Sekt den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen. Foto: Imago

Moskau/MZ. - Es ist das erste Haus am Platze, in das der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow die früheren Verbündeten aus dem Zweiten Weltkrieg und die damaligen Kriegsgegner aus Deutschland geladen hat. Das Hotel Oktyabrskaya - inzwischen in „Hotel President“ umbenannt - liegt nur einen Steinwurf entfernt vom berühmten Gorki-Park direkt gegenüber dem Roten Platz am Ufer der Moskwa.

Es ist noch keine zehn Jahre alt und die imperiale Betonarchitektur erzählt noch vom verflogenen Weltmachtanspruch der UdSSR. Alles ist groß und pompös, monumental und prächtig in dem Haus mit den 200 Zimmern und den 20 Konferenzsälen, das sich die Kommunistische Partei der Sowjetunion als Staatshotel vom Staatskonzern Glavmospromstroy hatte errichten lassen.

An diesem Mittwoch im September 1990 ist der Prachtbau wirklich der Mittelpunkt der Welt. Zum vierten Mal kommen Vertreter der Bundesrepublik und der DDR im Hotel „Oktober“ mit den Spitzen von Sowjetunion, USA, Frankreich und Großbritannien zusammen.

 Die große Unterzeichnerrunde: US-Außenminister James Baker, der Brite Douglas Hurd, UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse, der Franzose Roland Dumas und die beiden Deutschen Lothar de Maiziere und Hans-Dietrich Genscher am 12. September vor 35 Jahren im Hotel „Oktober“.
Die große Unterzeichnerrunde: US-Außenminister James Baker, der Brite Douglas Hurd, UdSSR-Außenminister Eduard Schewardnadse, der Franzose Roland Dumas und die beiden Deutschen Lothar de Maiziere und Hans-Dietrich Genscher am 12. September vor 35 Jahren im Hotel „Oktober“.
Foto: Imago Images/Rainer Unkel

Vier Monate Verhandlungen

Seit Mai laufen die sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den einstigen Siegermächten, die darauf abzielen, die seit mehr als 40 Jahren bestehende Nachkriegsordnung zu verändern. Deutschland will sich wiedervereinigen. Die Sowjetunion hat nach dem Zusammenbruch des Systems ihrer sozialistischen Satellitenstaaten eingesehen, dass „wir außerstande sind, Deutschlands Vereinigung zu stoppen, es sei denn mit Gewalt“, wie ihr Außenminister Eduard Schewardnadse feststellt. Und den drei Westmächten kommt es vor allem darauf an, eine Lösung zu finden, die das westliche Bündnis nicht schwächt.

In Moskau drängt die Zeit. Die beiden deutschen Staaten nutzen schon seit Anfang Juli dieselbe Währung. Faktisch ist das eine Vereinigung durch die Hintertür. Am 23. August hat eine Mehrheit von 363 Abgeordneten in der DDR-Volkskammer das Beitrittsdatum auf den 3. Oktober festgelegt. Am 31. August unterzeichneten der in Halle geborene DDR-Staatssekretär Günther Krause und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR, der den Beitritt der fünf neu zu bildenden Länder im Osten zum Geltungsbereich des Grundgesetzes regelt.

Das letzte Wort der Siegermächte

Lothar de Maiziere und  Hans-Dietrich Genscher besuchen während ihres Aufenthaltes in Moskau Kriegsgräber.
Lothar de Maiziere und Hans-Dietrich Genscher besuchen während ihres Aufenthaltes in Moskau Kriegsgräber.
Foto: imago/Rainer Unkel

Das letzte Wort aber haben die Sieger des Zweiten Weltkrieges, deren Interessenlagen sehr unterschiedlich sind. Während US-Präsident George Bush sen. und sein französischer Kollege François Mitterrand den Bitten der Deutschen um die Wiederherstellung der nationalen Einheit von Anfang an offen gegenüberstehen, stellt sich Großbritanniens Eiserne Lady Margaret Thatcher lange quer. Der 65-Jährigen, die während des Krieges selbst deutsche Bombenangriffe auf ihre Heimatstadt Grantham erlebt hat, graust es vor einer Rückkehr der „Hunnen“, wie die Briten die Deutschen abfällig nennen. „Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen“, sagt sie, „jetzt sind sie wieder da.“

Von einer Gruppe angesehener Historiker lässt sich die Frau, deren Eltern 1939 die aus Österreich geflohene 17-jährige Jüdin Edith Mühlbauer bei sich aufgenommen hatten, darüber ins Bild setzen, was vom gefürchteten „deutschen Wesen“ geblieben ist, das Großbritannien in zwei verheerende Kriege zog. Die Auskunft ist nicht allzu positiv. Aggressivität sei weiter da, gespeist aus Angst und einem Minderwertigkeitskomplex. Zudem seien Deutsche immer noch rücksichtslos, selbstgefällig, sentimental und überheblich.

Allerdings gelingt es den Wissenschaftlern, die Regierungschefin trotzdem zu beruhigen. Die Niederlage Nazideutschlands habe dauerhafte Wirkung entfaltet. Deutschland sehe sich wirklich als festen Teil des Westens und es verfüge über eine funktionierende Demokratie.

Thatchers Widerstand

Margaret Thatcher ist längst nicht überzeugt. Doch die Chefin der britischen Konservativen, die ihren von ihr selbst geliebten Beinamen „Iron Lady“ einem bösen Kommentar von „Radio Moskau“ verdankt, ist lange genug Politikerin, um zu wissen, wann ein Kampf verloren ist. Bis zur letzten Minute des Gipfels in Moskau versucht sie, Sand ins Getriebe des Einheitszuges zu werfen. Als alles zwischen allen vereinbart scheint, lässt sie ihre Verhandler verlangen, dass die in Deutschland stationierten britischen Truppen künftig auch Manöver auf DDR-Gebiet abhalten dürfen sollen. Thatcher weiß, dass die Sowjetunion dem niemals zustimmen wird.

Doch ein Ordnungsruf aus Washington beendet den Aufstand in Downing Street Nummer 10. US-Außenminister James Baker, von Anfang an ein Verfechter der Wiedervereinigung, spricht ein Machtwort. Die britische Premierministerin muss einlenken. In ihren Memoiren gesteht Thatcher später, die Wiedervereinigung sei „der einzige Fall gewesen, in dem ich mit meiner Linie zu einem außenpolitischen Thema unzweifelhaft gescheitert bin“.

Der Kreml streckt die Waffen

Gescheitert vor allem daran, dass der Kreml schon vor ihr die Waffen gestreckt hat. Es geht Gorbatschow und Schewardnadse nicht mehr um die Frage, ob es zur Wiedervereinigung kommt. Sondern nur noch darum, zu welchen Konditionen.

Der Preis der Freiheit wird in D-Mark bezahlt. Schon in den Monaten zuvor hatte die Bundesregierung der von den eigenen Hardlinern unter Druck gesetzten KPdSU-Führung mit Krediten und Hilfsgütern geholfen. Es geht darum, die sich verschärfende Wirtschaftskrise nicht auf die Stimmung im Land durchschlagen zu lassen, um die Reformer im Kreml an der Macht zu halten. Der „Wind of Change“ weht durch ein sehr kleines „Window of Opportunity“, wie die Amerikaner eine Gelegenheit nennen, in der Undenkbares möglich wird.

Auf die 220 Millionen D-Mark, mit denen zuvor schon Tausende Tonnen Fleisch, Butter und Käse für die Sowjetunion gekauft worden waren, hat Bundeskanzler Helmut Kohl schon bei seinem Kaukasus-Treffen mit Gorbatschow im Juli Kredite in Höhe von 20 Milliarden D-Mark, Hilfe zur Wiedereingliederung der aus der DDR abziehenden Sowjettruppen sowie eine dauerhafte Begrenzung der Truppenstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann draufgelegt.

Hektische Pendeldemokratie

Im Hotel „Oktober“ wird um die Details gerungen. Neben dem großen Vertrag mit allen ehemaligen Alliierten ringen die Diplomaten um einen Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, einen Wirtschaftsvertrag und ein Abkommen, das den Abzug der verbliebenen 340.000 Soldaten und Offiziere der „Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“ regeln soll.

Genscher und seine Leute verhandeln in hektischer Pendeldiplomatie mit der Sowjetseite. Alles hängt mit allem zusammen und Eduard Schewardnadse geht immer wieder ans Telefon, um sich das „Karascho“ von Gorbatschow zu holen.

Am 12. September wird der Zwei-plus-Vier-Vertrag von den Außenministern James Baker für die USA, Douglas Hurd für das Vereinigte Königreich, Eduard Schewardnadse für die UdSSR, Roland Dumas für Frankreich und Hans-Dietrich Genscher für die Bundesrepublik unterzeichnet. Für die DDR unterschreibt Ministerpräsident Lothar de Maizière selbst – nachdem die SPD seine Regierung verlassen hatte, musste der Christdemokrat das Außenministerium zusätzlich übernehmen. Kurz vor ein Uhr mittags Moskauer Zeit ist es so weit: Nach 45 Jahren Besatzung ist Deutschland wieder souverän. Bis aus Zwei plus Vier eins wird, dauert es nun nur noch 500 Stunden.