Die letzten Monate der DDR Die Eiligen der letzten Tage - Aufbruch in eine neue Welt
Vor 35 Jahren stand die DDR vor dem Ende ihrer Existenz. Überall roch es nach Anfang und fliegende Händler brachten die Konsumgesellschaft in den Osten.

Halle/Magdeburg/MZ. - Es gibt in diesem Januar vor 35 Jahren kein Begrüßungsgeld mehr, nicht einmal in Bayern, wo sich viele DDR-Bürger in den Monaten seit dem Mauerfall einen Nachschlag zu den 100 Mark geholt hatten, die überall ausgegeben wurden. Dafür sind die ersten fliegenden Händler aus dem Westen überall im Osten unterwegs. unternehmungslustige und geschäftstüchtige Männer aus dem Rheinland, aus Hessen und Niedersachsen, die nicht auf die D-Mark schauten.
Aus Pkw-Anhängern verkaufen sie, was immer die Mangelwirtschaft der DDR begehrt. Vom Porno-Film über die Levis-Jeans und bis zum Liebesroman flutet schon im Januar 1989 eine Welle an Wohlstandsversprechen in die in Auflösung begriffene Arbeiter- und Bauernrepublik.

Nichts, was es nicht gibt, wenn auch zu horrenden Preisen. Die fahrenden Kaufleute aus der Bundesrepublik lassen sich ihr Risiko, am Ende mit wertloser DDR-Währung dazustehen, teuer bezahlen. Bei den Geldwechslern am Bahnhof Zoo in Westberlin kostet die D-Mark inzwischen zehn DDR-Mark. In Videokassetten, T-Shirts, Kosmetik oder Büchern gerechnet liegt die Kaufkraft eines Alu-Chips eher bei 15:1, bei manchem alten VW oder Opel steht der Kurs sogar bei 20:11.
Ausgehungerte Ost-Kundschaft
Absatzprobleme aber haben die Glücksritter aus Bundesland nirgendwo. Ob in Magdeburg, Halle, Dessau oder Stendal, ob Dessous oder japanische Walkmans, Konsalik-Schmöker, Feinstrumpfhosen oder Küchengeräte − ausgehungert reißen die Ostdeutschen dem fahrenden Volk auf den Marktplätzen aus den Händen, was immer sie aus dem Kofferraum ziehen.
Mit einer als „großzügig“ und „unbürokratisch“ angepriesenen Regelung hat die DDR-Regierung den Ameisenhandel auf Straßen und Plätzen eigens legalisiert. Vergeblich, denn kaum einer der Händler hält sich an die amtliche Aufforderung, die „notwendige Verkaufsgenehmigung bei den Staatsorganen zu beantragen“ und Verkaufspreise nach der Formel „staatliche Festlegung plus maximal zehn Prozent“ zu berechnen.

Geld ist, der DDR-Planwirtschaft sei's gedankt, genug da. Zwar verdienen Arbeiter wie Angestellte in der DDR nicht annähernd so gut wie ihre Brüder und Schwestern drüben. Doch dank staatlicher Mietbremse, niedriger Einkommenssteuersätze und fehlendem Warenangebot im sozialistischen Handel liegt die Sparquote der privaten Haushalte im Osten gleichauf und teilweise sogar etwas höher als bei denen im Westen.
Niemand weiß am Anfang dieses Jahres, von dem im Januar noch keiner ahnt, dass es schon das letzte der DDR sein wird, wie es weitergeht. Kommt eine Vertragsgemeinschaft, wie sie die von letzten SED-Regierung unter Hans Modrow als Ausweg aus wirtschaftlicher Misere und anhaltender Abwanderung sieht? Oder die Konföderation, die die Teile der Bürgerrechtsbewegung favorisieren, die an einer eigenständigen DDR festhalten wollen? Oder setzen sich die durch, die bei den Demos seit Wochen „Deutschland einig Vaterland“ rufen?

Ungewissheit vor Augen
In Berlin bringt die Staatspartei SED noch einmal Zehntausende auf die Beine, indem sie dazu aufruft, gegen die drohende Machtübernahme durch Neofaschisten zu protestieren. Draußen im Land spekulieren die Menschen, was die als „Alu-Chips“ belächelten DDR-Münzen wohl demnächst noch wert sein werden. Wie lässt sich das Ersparte retten? Was wird seinen Wert behalten?
Die Zeichen mehren sich, dass der Zug zur Einheit Fahrt aufnimmt. Am ersten Arbeitstag des Jahres 1990 eröffnet die Dresdner Bank ihre erste DDR-Filiale, natürlich in Dresden. Wenig später folgen Ableger in Ost-Berlin und Leipzig. Andere große Banken folgen − Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher kommt selbst in seine Heimatstadt Halle, um die erste Commerzbank-Filiale einzuweihen.
Die Konsumgesellschaft kommt

Wie beim kalifornischen Goldrausch 140 Jahre öffnen auf der grünen Wiese improvisierte Wimpelketten-Autohäuser. Mobile Baumärkte tingeln über Land, an Ausfallstraßen tauchen diskrete Wohnwagen auf, vor denen freundliche Frauen stehen, die vorbeifahrenden Herren zuwinken. Reisebüros bieten aus bunten Kleinbussen Abstecher nach Venedig und Paris an. Mit dem Schlagwort „Joint Venture“ bewaffnete Berater aus Bayern hausieren mit guten Ratschlägen. Wer nicht aufpasst, hat schneller eine neue Versicherung abgeschlossen als er die alte mit der staatlichen DDR-Versicherung loswerden kann.

Es ist eine Zeit des Übergangs, geprägt von Spannung, aber auch von wachsender Unsicherheit. Erstmals findet in der DDR ein „Winterschluss verkauf“ statt. In der „Exquisit“-Kette, bis eben noch das Edel-Kaufhaus besserverdienender Proletarier, wird das Angebot mit 60 Prozent Rabatt verramscht. In den normalen Kaufhäusern der HO schwant den Angestellten Böses. „Fast unser gesamtes Sortiment ist drei Jahre alt“, klagt eine Verkäuferin, „wer soll das denn noch kaufen“.