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DDR-Strafvollzug DDR-Strafvollzug: Tod im Chlor bleibt ungesühnt

Von Steffen Reichert 09.07.2003, 16:35

Bitterfeld/Magdeburg/MZ. - Es war eins von jenen Urteilen, die "im Namen des Volkes" gesprochen wurden. Ein politischer Spruch. Eine Entscheidung gegen Gerd K. wegen des Vorwurfs des "ungesetzlichen Grenzübertritts". Das Kreisgericht Dresden verurteilte den gescheiterten Republikflüchtling K. am 7. Juni 1979 zu drei Jahren Haft. Acht Wochen später in die Strafvollzugseinrichtung Bitterfeld verlegt und dort in der Chlor-Elektrolyse beschäftigt, starb K. nach härtester Arbeit im April 1980 einen einsamen Tod im Haftkrankenhaus Leipzig. Verursacht durch ein Nierenversagen und ein Lungenoedem. Tod durch Chlor - ein Fall für die Justiz.

Wegen des Verdachts der vorsätzlichen Tötung hatte die Mutter von Gerd K. per Strafanzeige die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Nunmehr steht zehn Jahre nach Ermittlungsbeginn fest: Das unter dem Aktenzeichen 33 UJs 10437/93 geführte Verfahren wird endgültig eingestellt. "Die Ursache für die hohe Quecksilberkonzentration konnte nicht geklärt werden", so der Magdeburger Staatsanwalt Uwe Hornburg. Damit endet eines der letzten spektakulären Ermittlungsverfahren zu DDR-Unrecht.

Mit ungewöhnlich großem Aufwand hatten die Ermittler über Jahre versucht, eines der dunkelsten Kapitel des DDR-Strafvollzugs zu erhellen. Denn Gefangene und genannte Bausoldaten, die den Dienst mit der Waffe ablehnten, wurden in den gesundheitsgefährlichsten Bereichen der Chemiekombinate Buna, Leuna und Bitterfeld eingesetzt.

Über Jahrzehnte wurden im Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) Strafgefangene eingesetzt, mal 30, mal mehr als 500. "Es ging nicht nur um Planerfüllung, sondern auch um die Besetzung gesundheitsgefährdender Arbeitsplätze", weiß Justus Vesting. Vesting, der die Situation der Strafgefangenen akribisch untersucht und dokumentiert hat (siehe "Tote auch in Buna?"), ist sich sicher, "dass auf diesem Wege die Defizite einer maroden Industrielandschaft kaschiert werden sollten".

Zugleich spricht Vesting von einer "permanenten Verharmlosung und Vertuschung bei Unfällen". Erst nach dem zweiten Tod eines Gefangenen wurde 1981 die hallesche Bezirksbehörde der Polizei mit Untersuchungen beauftragt. Diese Tatsache war auch einer der zentralen Ermittlungspunkte für Polizei und Staatsanwaltschaft. So stießen die Ermittler im Fall des 1980 wegen versuchter Republikflucht zu zehn Monaten Haft verurteilten, dann in der Chlor-Elektrolyse eingesetzten und im Frühjahr 1981 gestorbenen Hartmut K. auf deutliche Warnungen der Mediziner zu seinem Gesundheitszustand. Auch die Aktenlage ist eindeutig. Bei einer Grenzwertzüberschreitung der Schadstoffe, so hatte das Gesundheitsministerium bereits 1979 entschieden, sei ein Arbeitsplatzwechsel unabdingbar.

Doch das Ergebnis der Urin-Untersuchung von Hartmut K., das deutliche Hinweise auf eine Quecksilbervergiftung enthielt, führte nicht zu jenem Wechsel. Im Gegenteil: Schon damals bestand der Verdacht, dass Proben manipuliert gewesen sein könnten. So wurde dem Verstorbenen in den Untersuchungen nach seinem Tod sogar vorgehalten, selbst Schuld an der Erkrankung zu tragen. "Man erklärte damals", so Staatsanwalt Uwe Hornburg, "dass der Gefangenen absichtlich gegen Sicherheitsbestimmungen verstoßen haben könnte, um so einen Arbeitsplatzwechsel zu erreichen." Tatsächlich aber konnte selbst im Abfluss eines Spülbeckens, wo ausschließlich Essgeschirr von Strafgefangenen gereinigt wurde, Quecksilber nachgewiesen werden.

Ein jüngst eigens vom Gewerbeaufsichtsamt Dessau eingeholtes Gutachten kam schließlich zu dem Ergebnis, dass der Tod der Gefangenen eindeutig Folge der Tätigkeit in der Chlor-Elektrolyse sei. Die Wissenschaftler wollten aber nicht ausschließen, dass die Aufnahme des Quecksilbers auch über eine nicht vorschriftsmäßig gewechselte Arbeitskleidung erfolgte.

Viele der Fragen zu den Unregelmäßigkeiten im Chemiekombinat Bitterfeld hätte die Justiz dem damaligen Leiter des Medizinischen Dienstes des Gefängnisses Bitterfeld stellen müssen. Sie konnte es nicht mehr. Der Major ist 1990 gestorben.