1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Burgenlandkreis
  6. >
  7. Nach den Ereignissen in Tröglitz: Nach den Ereignissen in Tröglitz: Bürgermeister Markus Nierth blickt zurück

Nach den Ereignissen in Tröglitz Nach den Ereignissen in Tröglitz: Bürgermeister Markus Nierth blickt zurück

Von Alexander Schierholz 24.09.2016, 14:00
Markus Nierth
Markus Nierth Andreas Stedtler

Tröglitz - Wie ein Mahnmal steht das zweigeschossige Mehrfamilienhaus an der Ernst-Thälmann-Straße. Im Dach klafft noch immer die Brandwunde, notdürftig bedeckt mit grauer Folie.

Ein Bauzaun versperrt den Zugang zum Grundstück. Eineinhalb Jahre ist es her, dass der Dachstuhl in Flammen stand, angezündet von Unbekannten, die nicht wollten, dass Flüchtlinge einziehen in Tröglitz.

Die Flüchtlinge sind nun trotzdem da, sie leben in anderen Wohnungen in dem 2.700-Einwohner-Ort bei Zeitz. Aber sonst ist nichts geklärt. Es gibt keine Täter. Und viele offene Fragen.

Tröglitz im Herzen

Markus Nierth sieht das Haus nicht mehr oft, nur flüchtig manchmal, wenn er mit dem Auto vorbeifährt. Zu Fuß geht der einstige ehrenamtliche Ortsbürgermeister kaum noch in sein Dorf. „Das tut mir nicht gut“, sagt er.

„Das tut weh, weil ich Tröglitz immer noch ins Herz geschlossen habe.“ Auch seine Frau meidet den Ort. Es ist zu viel passiert.

März 2015. Seit Wochen marschieren Asylgegner in Tröglitz auf. Steffen Thiel, Kreisrat der rechtsextremen NPD, hat die „Spaziergänge“ genannten Demonstrationen angemeldet.

Neonazis aus dem nahen Thüringen mischen sich unter die Teilnehmer, aber auch Einwohner aus dem Ort. Nachbarn von Markus und Susanna Nierth. An einem Sonntag wollen Thiel und sein Gefolge vor dem Haus der Nierths im Ortsteil Burtschütz eine Kundgebung abhalten.

Nierth fühlt sich von den Behörden im Stich gelassen, deshalb tritt er zurück. Erst danach ändern die Asylgegner von sich aus die Route.

Damit fängt die Geschichte erst an. Markus Nierth wird über Nacht international bekannt. Als der Dorfbürgermeister, der zurücktritt, weil Neonazis ihn bedrohen.

Über Wochen bestimmen Kamerateams das Bild in Tröglitz. Als das Medieninteresse gerade wieder abgeflaut ist, brennt die für Flüchtlinge geplante Unterkunft.

„Brandgefährlich“ - das Buch zur Geschichte

Jetzt hat Markus Nierth die ganze Geschichte noch einmal aufgeschrieben, zusammen mit der Leipziger Journalistin Juliane Streich. „Brandgefährlich - wie das Schweigen der Mitte die Rechten stark macht“, heißt das Buch, 216 Seiten stark, erschienen in diesen Tagen im Christoph-Links-Verlag.

Es ist die Geschichte von Markus Nierth und seiner Familie. Es ist aber auch die Geschichte einer Entgrenzung: Wie kann es sein, dass ein paar Neonazis und frustrierte Wut- und Angstbürger - zusammen kaum mehr als 100 Leute - über Wochen die Agenda eines Dorfes bestimmen? Während die Mehrheit schweigt. Teils aus Angst vor den Rechtsradikalen, teils aus klammheimlicher Zustimmung, teils aus Bequemlichkeit.

Und das Buch ist eine Geschichte über Heimat. Und über ihren Verlust. Wie viel Heimat ist noch übrig für Markus Nierth? Der aufgewachsen ist im nahen Weißenfels, nach der Wende zurückkam und in Tröglitz einen alten Hof saniert hat für sich und seine Familie.

Das jahrhundertealte Gemäuer duckt sich in den alten Dorfkern, durch ein großes Holztor geht es in den Hof. Im Haus: Heimeligkeit - Fußbodenfliesen im warmen Braun, ein einladendes Sofa, ein Flügel mit Bach-Noten, ein Ofen, dampfender Tee in großen Tassen. Das Anwesen der Nierths wirkt wie der Inbegriff von Geborgenheit und Heimat. Aber ist es das noch?

Markus Nierth ist ein raumgreifender Typ, groß, kräftiger Händedruck, pointierte Formulierungen. Keiner, dem man es zutrauen würde, mit den Verhältnissen zu hadern. Aber was macht es mit einem, wenn bei den Neonazis plötzlich Menschen mitmarschieren, mit denen man eine gemeinsame Geschichte hat, einen gemeinsamen Weg gegangen ist? Die man zu kennen glaubt? Wenn Menschen, die einem nahe sind, sich plötzlich abwenden? Markus Nierth fragt sich noch heute: „Warum hat uns ein Großteil der Leute so allein gelassen?“ Dabei hätten sie Beistand dringend nötig gehabt, nach dem Rücktritt, nach den Morddrohungen, die er bekommen hat.

Was bleibt, sind Wunden

Markus Nierth war Bürgermeiste, sechs Jahre lang, er ist noch immer hauptamtlicher Trauerredner. Er kennt seine Tröglitzer, viele Leben, viele Geschichten. Er hat zugehört, mitgelitten, Trost gespendet, angepackt. „Eigentlich sind meine Landsleute gutherzige Menschen“, sagt er. Aber viele machen bis heute einen Bogen um die Familie. Und auch er kann manche Menschen nicht mehr grüßen. Zu groß ist die Enttäuschung. „Manche haben gezeigt, was wirklich in ihnen steckt, da ist einfach keine Beziehung mehr da.“ Was bleibt, sind Wunden, die erst langsam heilen.

Dennoch wollen Nierths in Tröglitz bleiben. Lange war das nicht klar, lange haben sie überlegt wegzuziehen. Eine Abstimmung im Familienrat ergibt schließlich ein Patt - vier zu vier. „Für uns heißt das, erst einmal nichts zu ändern und weiter zu kämpfen“, sagt Susanna Nierth. Und stellt eine Frage, die sie sich gleich selbst beantwortet: „Was wäre denn, wenn alle weggehen würden, die widersprechen? Dann würden wir doch den Rechten das Feld überlassen.“ Das ist der Grund für ihr Bleiben.

Sein Buch solle keine Abrechnung sein, sagt Markus Nierth, eher so etwas wie eine Therapie. Er hat sich den Schmerz der persönlichen Verletzungen von der Seele geschrieben.

Er hat den ganzen Dreck noch einmal ans Licht gezerrt. Die Wut. Die Anfeindungen. Die Drohungen. Die Pöbeleien. Die Briefe voller Kot. Die Hass-Mails. Die zurückgezogenen Aufträge für ihn und für das Tanzstudio seiner Frau. „Das hat noch mal weh getan“, sagt er.

Aber hat es geholfen? „Es hat mir geholfen mich zu sortieren.“

Brandanschläge häufen sich

Als man am Telefon ein Treffen mit ihm vereinbart hat, hat er gesagt, er möchte in diesem Gespräch nicht in Tröglitz verharren. Er möchte hinausblicken über diesen „Mikrokosmos“. Also dann: Was lässt sich lernen aus Tröglitz, das ja kein Einzelfall ist? - Das Bundeskriminalamt zählt 92 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte im vergangenen Jahr, „Pro Asyl“ kommt sogar auf 126.

Wer Antworten sucht, wird gleich bei Markus Nierth fündig. Eine Lehre, aus seiner Sicht: Den „Ewiggestrigen“, den „Unbelehrbaren“, denen, die gegen Flüchtlinge pöbeln und gegen ihre Unterstützer, die Hass säen, müsse man sagen: Bis hierher und nicht weiter! „Die brauchen Widerstand und klare Kante.“ Von sich selbst sagt Nierth: „In diesem Punkt war ich bisher viel zu harmoniebedürftig.“

Nierths sind Christen. Es ist auch ihr Glaube, der sie getragen hat durch die letzten eineinhalb Jahre. „Immer wenn es eigentlich schlecht aussieht“, sagt seine Frau, „weiß ich, dass es über uns jemanden gibt, der das alles im Blick hat und hilft.“ Ihr Mann ist Theologe und Seelsorger, einer, der den Menschen mit Liebe und Achtung begegnen will. Vergebung, Nächstenliebe, Gottvertrauen, das sind seine Leitmotive.

Oder, ins Heute gewendet: Nötig seien mehr Mitmenschlichkeit und Verantwortung für sich selbst und andere, findet Markus Nierth. „Wir brauchen eine Rückbesinnung auf diese Grundwerte, nach denen doch eigentlich viele Sehnsucht haben.“

Wir schaffen das?

Die Politik dürfe sich nicht wegducken, sie müsse diese Werte leben und sich besser erklären. Da ist zum Beispiel Merkels „Wir schaffen das“. Nierth hält den Satz für richtig. Aber: „Sie hat verpasst zu erklären, wie sie sich das vorstellt, um die Leute mitzunehmen. Sie hat keine Vision entfaltet.“

Das klingt pastoral, nach Sonntagspredigt. Wäre da nicht diese Wut in Markus Nierth, die ihn jetzt im Sessel nach vorne schnellen lässt. Die Wut, die entsteht, wenn er über Asylgegner spricht. Wie sie durchs Dorf liefen, vor seinem Haus aufmarschieren wollten. Wie sie bei Pegida mitlaufen oder bei Demos der AfD. Sie wollten das christliche Abendland verteidigen, schimpft er, aber da lägen sie falsch! Für ihn sind das nicht bloß ein paar enttäuschte oder besorgte Bürger. Für ihn sind es Feinde der Demokratie.

13. März, der Abend der Landtagswahl. In Magdeburg triumphiert die AfD und feiert ihren 24-Prozent-Sieg. „Dieser Tag ist unser Tag“, ruft Landeschef André Poggenburg auf der Wahlparty. In Tröglitz, das zum Wahlkreis von Poggenburg gehört, studiert Markus Nierth in den Tagen danach die lokalen Ergebnisse. Er rechnet vor: 32 Prozent für die AfD, 5,5 Prozent für die NPD im Ort. „Das macht fast 40 Prozent für die rechten Parteien. Da war ich schon erschrocken.“ Seine Frau sagt: „Ein Schock.“

Trotz aller Verletzungen, Markus Nierth hat seine Tröglitzer immer verteidigt: „Tröglitz ist kein braunes Nest“, hat er oft gesagt. Würde er diesen Satz heute noch unterschreiben? Ja, sagt er, aber. Das Aber heißt: „40 Prozent haben sich für einfache, radikale Lösungen und gegen die demokratische Gesellschaftsordnung entschieden.“

Man mag das für übertrieben halten. Aber dann wird just an dem Tag, an dem dieser Text entsteht, der jüngste Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit veröffentlicht. Der alarmierende Tenor: Fremdenhass und Rechtsextremismus gefährden den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland. Der Befund liest sich wie eine Bestätigung der Thesen Nierths. (mz)

Nach dem Anschlag: das Brandhaus in Tröglitz
Nach dem Anschlag: das Brandhaus in Tröglitz
Torsten Gerbank