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Maueropfer aus Naumburg Maueropfer aus Naumburg: Schüsse am Heiligen Abend 1970 töten Christian Peter Friese

Von Albrecht Günther 23.12.2017, 11:01
Blick am 22.10.1965 auf die Berliner Mauer mit Sperranlagen und Todesstreifen in der Bernauer Straße in Berlin-Wedding. Am 13. August 1961 wurde die Mauer errichtet. Mindestens 140 Menschen verloren bis zum 9. November 1989 an der Mauer ihr Leben.
Blick am 22.10.1965 auf die Berliner Mauer mit Sperranlagen und Todesstreifen in der Bernauer Straße in Berlin-Wedding. Am 13. August 1961 wurde die Mauer errichtet. Mindestens 140 Menschen verloren bis zum 9. November 1989 an der Mauer ihr Leben. dpa

Naumburg/Berlin - Als Christian Peter Friese in Berlin aus dem D-Zug steigt, ist die Stadt bereits in Weihnachtsstimmung. Leichter Schnee fällt, die Dunkelheit kündigt sich an. Der junge Mann macht sich auf den Weg nach Treptow. Sein Ziel: eine Gartenanlage in der Köllnischen Heide.

Die Parzellen mit ihren Lauben liegen unmittelbar an der Mauer, ermöglichen ein Versteck. Christian Peter Friese verbirgt sich, beobachtet die DDR-Grenzsoldaten. Stunde um Stunde vergeht. Kurz nach Mitternacht bricht Friese auf. Er übersteigt die Hinterlandsperre, kriecht unter dem Signalzaun hindurch, läuft mit schnellen Schritten in Richtung Mauer. Da krachen die Schüsse. Friese sackt zusammen, stirbt.

An diesem 25. Dezember des Jahres 1970 kommt um 0.03 Uhr ein weiterer von insgesamt 140 Menschen - wie später ermittelt wird - an der Grenze, die Ost- und Westberlin trennt, zu Tode: Christian Peter Friese aus Naumburg. In der Domstadt jedoch gibt es bis heute keinerlei Ort, der an den tragischen Mauer-Tod des Heiligen Abends 1970 erinnert.

Naumburger schreibt Brief an Oberbürgermeister Küper

Bernd Niemann aus Naumburg, der inzwischen in Berlin lebt, hat sich deshalb in einem Brief an Oberbürgermeister Bernward Küper (CDU) gewandt. In ihm regt er an, die Stadt möge nach einem geeigneten Ort für eine Tafel suchen, die auf das Schicksal des getöteten Naumburgers aufmerksam macht. Möglich wäre beispielsweise die Schule, die Friese besuchte. Niemann, der in Berlin in der Caroline-Michaelis-Straße und damit in unmittelbarer Nähe des Mauer-Mahnmals der Bernauer Straße wohnt, schreibt in seinem Brief: „Im Januar 2018 wäre Christian Peter Friese 70 Jahre alt geworden, so alt wie ich jetzt bin. Es wäre schön, wenn wir mit unserem Projekt bis zu diesem Zeitpunkt einen Schritt weiter gekommen wären.“

Grenzsoldaten feuern 98 Schuss auf den Flüchtenden

Das Regiment 37 des Grenzkommandos Berlin-Mitte der Nationalen Volksarmee hat die „Verhinderung eines Grenzdurchbruches mit Anwendung der Schusswaffe und tödlichen Verletzungen“ in einem Bericht akribisch festgehalten. Er ist im Archiv der Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde zu finden.

Demnach war die 3. Grenzkompanie, die den Abschnitt zwischen Treptow im Osten und Neukölln im Westen in jener Weihnachtsnacht zu bewachen hatte, durch einen Zug der 1. Grenzkompanie verstärkt worden. Wohl deshalb, weil die Genossen vermuteten, vor allem eine solche Nacht würden „Grenzverletzer“ nutzen, um das ungeliebte Land zu verlassen.

Auch Christian Peter Friese mag sich das gedacht haben, mag gehofft haben, über Weihnachten sei der Grenzstreifen weniger bewacht als an normalen Tagen. Von zwei Seiten aus, jeweils aus Richtung der Wachtürme jedoch eröffnen die Soldaten sofort das Feuer, als sie den Flüchtenden bemerken. Insgesamt fallen 98 Schüsse.

Mutter von Christian Peter Friese wird zu absolutem Schweigen verpflichtet

Auch auf Westberliner Seite bleibt das Geschehen nicht unbemerkt, zumal dort einige der Projektile einschlagen. Ein Schupo beschimpft die DDR-Grenzsoldaten deshalb mit dem Ruf: „Ihr Schweine, ihr habt geschossen.“ Die bringen den Leichnam 16 Minuten nach den tödlichen Schüssen mit einem Trabant-Kübelwagen in den Postenbereich Kölnische Heide. Von dort erfolgt der Transport in das gerichtsmedizinische Institut der Humboldt-Uni.

Der am Vormittag des ersten Weihnachtsfeiertages 1970 von zwei Ärzten der Uni-Klinik ausgestellte Totenschein vermerkt als Todesursache „Brust- und Bauchdurchschuss“. Helene Friese jedoch, die bis 1996 in der Naumburger Poststraße 11 wohnte, kann die wahre Todesursache ihres Sohnes nur ahnen. Von der Stasi wird sie zu absolutem Stillschweigen verpflichtet, die Urne Christian Peters wird unter Beobachtung von Staatssicherheitsleuten anonym in Naumburg auf dem Friedhof in der Weißenfelser Straße beigesetzt. Die offizielle, von der Stasi vorgeschriebene Version lautet: „Tod durch Verkehrsunfall“. Ihr Sohn sei mit einem Auto gegen einen Baum gefahren, sein Leichnam bereits eingeäschert.

Die Stasi nötigt der Mutter noch eine Erklärung ab, in der sie die amtlichen Organe bittet, „im Interesse meines Ansehens in gleicher Weise zu argumentieren“, wie Martin Ahrends, Udo Baron und Hans-Hermann Hertle für ihre Recherchen zum Buch „Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961 - 1989: ein biografisches Handbuch“ herausgefunden haben.

Für Helene Friese, die 1921 geboren wurde und die am 28. Mai 2010 in Weißenfels, wo sie zuletzt wohnte, verstorben ist, muss das Verbergen des Wissens um den Tod ihres Sohnes quälend gewesen sein. Auch nach der Wende erfährt sie keine Genugtuung. Denn 28 Jahre nach den Todesschüssen werden die an der Tat beteiligten Grenzsoldaten in einem Verfahren vor dem Berliner Landgericht freigesprochen, weil ihnen keine Tötungsabsicht nachgewiesen und der eigentliche Todesschütze nicht festgestellt werden kann, wie die Richter einräumen müssen.

West-Fernsehen berichtet von Todesopfer an der Mauer

Als Helene Friese am 24. Dezember 1970 ihren Sohn, der im selben Haus wohnt, zum Essen holen will, kann sie ihn nicht finden. Eine Ahnung überkommt sie, die sich verfestigt, als sie feststellen muss, dass ein Fotoalbum, ein Tonbandgerät und Kleidungsstücke fehlen. „Ich dachte sofort, dass er jetzt tatsächlich nach Berlin gefahren wäre, um zu flüchten“, gibt sie 1992, von der Naumburger Polizei im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen die Todesschützen befragt, den Bediensteten Auskunft.

Als sie am ersten Weihnachtsfeiertag im West-Fernsehen vom Tod eines jungen Mannes an der Berliner Mauer erfährt, wird aus der Ahnung beinahe Gewissheit. Bange Tage vergehen, bis sie am 7. Januar 1971 von der Staatssicherheit vom Tod ihres Sohnes - allerdings mit einer Lüge - unterrichtet wird. Dabei war Christian Peter ihr einziges Kind.

Als junger Mann ist Friese im Naumburger Siedlungs-Club aktiv

Der Sohn kommt am 5. Januar 1948 in München zur Welt, wächst dann bei der Mutter in Naumburg auf. Helene Frieses Mann wird seit 1944 vermisst, ist wahrscheinlich im Krieg getötet worden. So wird Christian Peter als unehelicher Sohn geboren. Von seinem Vater ist nichts bekannt. Der Junge geht in der Domstadt zur Schule, lernt Schlosser im Kraftfahrzeug-Handwerk. Mit seiner Verlobten zieht er nach Karl-Marx-Stadt, kommt aber bald wieder zurück in die Saalestadt.

Der junge Mann arbeitet als Schlosser bei der Deutschen Reichsbahn, seine Freizeit verbringt er im Naumburger Siedlungs-Club. Von Dezember 1967 bis Juni 1969 leitet er sogar den Club, wie die Leiterin des in der Poststraße ansässigen Kreiskulturhauses Naumburg in einem Schreiben vom 2. April 1970 bestätigt. Aufgrund der Abendschule gibt er den Posten ab, „steht aber dem Leitungsverantwortlichen des Clubs als Verantwortlicher für organisatorische Fragen mit Rat und Tat“ zur Seite. „Er verstand es, trotz Desinteresses einiger Clubmitglieder sie für ein positives und niveauvolles Clubleben zu interessieren“, schreibt die Kulturhaus-Leiterin.

Die Staatssicherheit in Naumburg, die auf den Club wie auf alle anderen Kultureinrichtungen der Stadt nicht nur ein Auge geworfen hat, argwöhnt dagegen, hier könne womöglich gegen die DDR gearbeitet werden. Zumal die Musik aus deren Gefilden - im Gegensatz zum West-Beat - bei den Jugendlichen nicht gerade hoch im Kurs steht.

In den Stasi-Akten, die Ahrends, Baron und Hertle gesichtet haben, findet sich die Aussage, Christian Peter Friese sei in seinem Wohngebiet wegen seines „Hanges zur westlichen Beat-Musik schlecht beleumundet“, er habe „dekadente Kunstauffassungen“ verbreitet und eine „labile Einstellung zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR“ vertreten. Als Clubleiter habe er deshalb abgelöst werden müssen.

Friese will den verhassten „Ehrendienst“ nicht leisten

Wie so viele junge Menschen in der DDR empfindet Friese die Deutsche Demokratische Republik offenbar als Enge, als Begrenzung und Einschnürung. Deshalb wagt er den Versuch, auszubrechen. Hinzu kommt, dass er den „Ehrendienst“ in der Nationalen Volksarmee nicht leisten möchte. Gegenüber der Mutter lässt er deshalb immer wieder anklingen, bei einer passenden Gelegenheit das Land verlassen zu wollen.

Obwohl ein Freund zwei Jahre zuvor erfolglos versucht hatte, aus der DDR zu fliehen, und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, lässt er sich davon nicht beeindrucken. Ihn werden sie schon nicht schnappen, sagt er seiner Mutter. Diese Hoffnung allerdings ist - wie sich zu Weihnachten 1970 erweist - nicht nur trügerisch, sie ist tödlich.

Nicht weit vom Todesort entfernt, an der Kiefholzstraße, Nähe Dammweg, erinnert inzwischen eine Tafel an das Schicksal Christian Peter Frieses. Auto an Auto, von der Autobahn aus Neukölln kommend und in Richtung Köpenicker Landstraße sowie umgekehrt fahrend, reiht sich aneinander. Der Dammweg ist eine vielbefahrene Verkehrsader, die die Bezirke des ehemaligen Ostens und Westens verbindet.

Ein Streifen aus Pflastersteinen, quer über der Fahrbahn, markiert die damalige Grenze. Kaum einer der Autofahrer achtet darauf, jeder hat es eilig, um an sein Ziel zu kommen. Berlin ist zu einer Stadt geworden, obwohl die Narben der gewaltsamen Teilung noch immer spürbar sind.

Fluchtweg über „Vogelsang“ und „Freiheit“

Dabei hat der versuchte Fluchtweg Christian Peter Frieses auch eine gewisse Symbolik. Im Osten begann er in der Gartenanlage „Vogelsang“. Wäre er erfolgreich gewesen, hätte er auf der Westseite in der Anlage „Freiheit“ oder in der Anlage „Stolz von Rixdorf“ sein Ziel gefunden.

Dass in Naumburg das Schicksal Christian Peter Frieses vor dem Vergessen bewahrt wird, dafür setzt sich auch Sieglinde Roloff ein. Die Naumburgerin und einstige Mitarbeiterin des Kulturamtes war 2016 während einer Reise der Naumburger Goethe-Gesellschaft nach Berlin in der Gedenkstätte an der Bernauer Straße auf einen Hinweis auf Christian Peter Friese gestoßen. Gemeinsam mit Stadtarchivarin Susanne Kröner, Museumsleiter Siegfried Wagner und dem früheren OB Curt Becker recherchierte sie, um biografische Angaben des Toten zu finden.  (ntb/mz)

An der Berliner Kiefholzstraße erinnert eine Tafel an 15 Mauer-Opfer, die dort zu Tode kamen, so auch an Christian Peter Friese (unteres Foto).
An der Berliner Kiefholzstraße erinnert eine Tafel an 15 Mauer-Opfer, die dort zu Tode kamen, so auch an Christian Peter Friese (unteres Foto).
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