Geschichte Geschichte : Eine Erinnerung weniger

In der hessischen Kleinstadt Witzenhausen sind derzeit die Bagger dabei, das Bürgerhaus Am Sand abzureißen. Erst in den 1970er Jahren samt angeschlossenem Hallenbad errichtet, war es schon länger baufällig und abrissreif und nicht mehr zu sanieren. Mit dem Witzenhausener Bürgerhaus verschwindet nun auch die darin enthaltene „Naumburger Stube“, ein kleiner Saal für Vereinstreffen und Zusammenkünfte. Damit verschwindet auch endgültig die Geschichte, die mit diesem Raum verknüpft ist.
Ziel: das Rheinland
Ihren Anfang nahm sie in den späten 1940er und in den 1950er Jahren bis zum Mauerbau, als ungezählte Naumburger auf der Suche nach einer neuen Zukunft ihre Heimat gen Westen verließen. Eine Vielzahl von ihnen siedelte sich im Rheinland und rund um Köln, Düsseldorf und Mettmann an. Auch die Familie des ehemaligen langjährigen Naumburger Oberbürgermeisters Arthur Dietrich (1875-1932), der das Amt in der schweren Zeit von 1913 bis zu seinem Tode inne hatte, lebte nun im Kölner Raum. Von ihr ging die Initiative aus, alte Naumburger zu einem Treffen einzuladen. Anfang der 1960er Jahre trafen sich rund 1000 Frauen und Männer im Stadtwald von Köln, um ihrer Heimat an der Saale zu gedenken. Damals entstand eine Gesellschaft, die sich „Die Naumburger“ nannte. Der Sohn des Ex-Oberbürgermeisters und dessen Frau Irmgard brachten die Geflüchteten immer wieder zusammen.
Dann zog es die Gesellschaft näher an ihre alte Heimat heran. Witzenhausen ist „nur“ 200 Kilometer von Naumburg entfernt, liegt direkt an der hessisch-thüringischen Grenze in einer hügeligen Landschaft, gilt mit über 15000 Kirschbäumen als größtes zusammenhängendes Gebiet, in dem die „roten Früchtchen“ geerntet werden. Witzenhausen trägt den Beinamen „Kirschenstadt im Werratal“. In jedem Jahr wird dort die Kesperkirmes gefeiert. So kam es, dass das Treffen der „Naumburger“ ab 1969 dort abgehalten wurde. Jetzt kümmerte sich Dietrichs Enkelin Renate Auschner um die Zusammenkünfte. Sie war es, die 1991 eine Einladung ans Naumburger Rathaus richtete. Bürgermeister Curt Becker, gerade erst ein Jahr im Amt, setzte sich im September mit Frau Doris in sein Auto und fuhr zum obligatorischen 22. Treffen nach Hessen. Mit dem Autor dieses Beitrags war auch ein Tageblatt-Journalist dabei, so dass die eigenen Eindrücke von damals hier einfließen. Es sollte die letzte offizielle Zusammenkunft in Witzenhausen sein. Denn Becker lud die „Naumburger“ kurzerhand fürs nächste Jahr zum Kirschfest in die Domstadt ein. Persönliche Verbindungen zur alten Heimat gab es da schon längst. Ernst Selle, der legendäre Gärtnermeister aus der Hirschpassage, der als Rentner bereits „in den Westen fahren durfte“, war schön öfters bei diesem Treffen dabei. 1990 hatte er sogar „seine“ Sänger vom Claudius-Männerchor einmal mitgenommen. Und es soll auch eine Partnerschaft zwischen den Kirchenkreisen bestanden haben.
Es entwickelte sich so, wie es sich Curt Becker vorgestellt hatte. Bereits zum Kirschfest 1992 gab es das Treffen „Der Naumburger“ auf der Festwiese. Alte Freunde kamen zusammen. So Horst Astroth und Fritz Zitzmann. Oder der Grochlitzer Willi „Christel“ Hoffmann mit seinen Fußballkameraden von Naumburg 05. Hoffmann sorgte später bei der Aufarbeitung der Vereinsgeschichte der 05er reichlich für Informationen. In Witzenhausen erinnerte weiterhin ein kleiner Straßenzug, die „Naumburger Straße“, eine Linde, die die Naumburger 1971 gepflanzt hatten, und die „Naumburger Stube“ im Bürgerhaus an die zwei Jahrzehnte dieses Ereignisses in Nordhessen. In Witzenhausen galt dieser Spruch: „Im Frühjahr blühen die Kirschen, im Sommer feiern wir Kesperkirmes und im Herbst kommen die Naumburger.“
Viele sind längst verstorben
Einige der Ehemaligen sollen diesem Brauch aber auch nach dem Ende der Gesellschaft in Hessen weiter treu geblieben sein. Inzwischen sind 25 Jahre vergangen. Viele der einst Geflüchteten sind längst verstorben. Mit dem Abriss des Bürgerhauses und der „Naumburger Stube“ ist ein Zeugnis dieser Geschichte verschwunden.