Bitterfeld-Wolfen Bitterfeld-Wolfen: Rückhalt für Familie Nguyen
Bitterfeld-Wolfen/MZ. - Jedem seiner Döner-Kunden in der Bitterfelder Einkaufszone schiebt Mehmet Sari eine Liste unter die Nase. "Bleiberecht für Familie Nguyen" steht da, und darunter stehen viele Unterschriften. Nicht weit entfernt von dem Kiosk sammeln sechs junge Frauen Unterschriften für das selbe Anliegen: Die Bürger sollen sich solidarisieren mit einer vietnamesischen Familie, die seit 1992 in Bitterfeld lebt und deren Antrag auf Asyl abgelehnt worden ist.
Weil die Nguyens Anfang der 90er Jahre mit unverzollten Zigaretten gehandelt hatten und dafür verurteilt worden waren, entschied auch die Härtefallkommission Sachsen-Anhalts dieses Jahr gegen einen Bleiberechts-Antrag. "In Abwägung zwischen den Verfehlungen der Eltern und der Integration der Kinder ist es nicht gelungen, die Mehrheit für das Härtefallersuchen zu erreichen", so Susi Möbbeck, Integrationsbeauftragte des Landes.
Nun soll die Familie abgeschoben werden, so will es das Gesetz. Nachbarn, Mitschüler, Sportfreunde, Trainer, Kommunalpolitiker und viele Bürger aber wollen das nicht. Auch Unterschriften von Landes- und Bundespolitikern stehen auf den Listen. Es geht um gut acht Monate: Ab August hätte die Familie ein Bleiberecht, dann wäre die Verurteilung aus den 90er Jahren kein Hinderungsgrund mehr. Das älteste der drei Kinder hat mit 14 Jahren bereits jetzt das Recht, in Deutschland zu leben. Die Tochter verschafft der Familie zunächst eine weitere Bleibe-Frist. Soll sie alleine hier bleiben, muss eine andere Familie vormundschaftliche Aufgaben übernehmen. Darüber muss noch ein Gericht entscheiden. So lange soll die Abschiebung der Nguyens ausgesetzt werden.
"Die Familie hat sich besonders positiv integriert, alle sprechen deutsch, die Eltern arbeiten, die Nguyens leben nicht von öffentlichen Mitteln", erklärt Werner Rauball (SPD), Bürgermeister von Bitterfeld-Wolfen. Und von einem "Paradebeispiel für Integration" spricht Joachim Soppa, Leiter der Euroschulen Bitterfeld / Wolfen zu denen ein "Kompetenzzentrum für Migration" gehört.
Die Unterschriften sammelnden Frauen in der Innenstadt haben sich inzwischen tief in ihre Daunen-Mäntel gemummt, der Wind pfeift. Sie hatten die Initiative ergriffen, die Unterschriftensammlung angestoßen. Die Frauen sind Übungsleiterinnen beim TSV Einheit Bitterfeld und kennen die Mädchen der Familie seit Jahren. "Sie sind unsere besten Turnerinnen", sagt Kathi Hartwich. "Sie sind uns ans Herz gewachsen." Mehr als 2 000 Unterschriften haben allein die sechs Frauen in den ersten vier Tagen ihrer Aktion gesammelt. Mehmet Saris Liste am Dönerstand ist vormittags schon voll. In Geschäften und Einrichtungen in und um Bitterfeld-Wolfen liegen weitere Listen aus. Und Oberbürgermeisterin Petra Wust (parteilos) sammelt selber mit.
Ein Mann kommt auf die Frauen mit den Listen zu. "Ich finde das richtig, was sie hier machen", sagt Wolfgang Hausmann aus Mühlbeck, "immer wird Integration gepredigt. Und wenn's darauf ankommt..." Er schüttelt den Kopf.
Von einem "ganz schlechtes Zeichen einer Gesellschaft, die den Anspruch hat, Familie zu fördern" spricht die Bitterfelder Pfarrerin Annette Bohley. Vor allem an die Kinder sollte man denken. Bleibe die älteste Tochter allein hier, wäre die Familie zerrissen. Die Kinder seien alle hier groß geworden, jetzt sollte man "ihnen hier von Herzen auch die Chance geben für ihr berufliches Fortkommen." Die Abschiebung sei "rechtlich sicher okay. Aber moralisch nicht."
Gestern sind 3 850 Unterschriften an den Landrat von Anhalt-Bitterfeld, Uwe Schulze (CDU), übergeben worden. Der Kreis, vollziehende Behörde für die Abschiebung, will einen weiteren Antrag auf ein dauerhaftes Bleiberecht für die ganze Familie Nguyen an die Härtefallkommission stellen.
Vorerst wird die Aktion für Familie Nguyen fortgesetzt. "Wir hoffen, dass wir etwas bewegen können", sagt Kathi Hartwich. Die Ausländerbehörde von Anhalt-Bitterfeld äußert sich nicht zum laufenden Verfahren. Auch die Antwort auf Rauballs Bitte an den Innenminister, "Gnade vor Recht ergehen" zu lassen, steht noch aus. Die Härtefallkommission berät bereits heute erneut - "auch im Hinblick auf die starke Reaktion der Bevölkerung", so Möbbeck. Doch sie selbst ist "leider nur begrenzt optimistisch".