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Billig aufputschend gefährlich Billig aufputschend gefährlich: Crystal als Hauptproblem in Naumburger Klinik

Von harald boltze 22.05.2014, 13:58
Weiß oder auch bräunlich sind die namensgebenden Kristalle, die sich Konsumenten am liebsten durch die Nase in die Blutbahn jagen.
Weiß oder auch bräunlich sind die namensgebenden Kristalle, die sich Konsumenten am liebsten durch die Nase in die Blutbahn jagen. Archiv/Biel Lizenz

naumburg/mz - Dass sowohl Don Quijote als auch Felix Böcker von großer, hagerer Gestalt sind, ist Zufall. Vereint sind beide aber vor allem in ihrem Kampf gegen Windmühlen. Während der Romanheld die Mühlen allerdings nur in seiner Einbildung als Riesen wahrnahm, ist das „Riesen-Problem“ für Felix Böcker, den Chefarzt der Klinik für psychische Erkrankungen in Naumburg, die harte und traurige Realität. Es heißt „Crystal“, und es ist Böckers Problem Nummer eins.

Fallzahlen steigen rapide

Trotz Aufstockung der Betten war die Naumburger Station im April mit 106 Prozent ausgelastet und damit überbelegt. Maßgeblich wegen der Droge, die seit einigen Jahren Mitteldeutschland und Bayern aus Richtung Tschechien überschwemmt. Als „nicht nennenswert“ beschreibt Felix Böcker das Phänomen Crystal in seiner Klinik vor dem Jahr 2010. Seitdem aber steigt die Fall-Anzahl rapide. Über 200 Fälle waren es 2013. Insgesamt 70 davon waren akute Vergiftungserscheinungen, die auf das Methamphetamin zurückgehen - mehr als ein Patient pro Woche.

Warum Crystal so beliebt ist, kann man relativ einfach erklären. Es ist vergleichsweise billig, und es lässt sich auf öffentlichen Märkten kurz hinter der tschechischen Grenze leicht besorgen. Wer sich ein bisschen quer durchs Internet liest, bekommt Zutaten und Anleitung zum Selberkochen sogar frei Haus. Und die Wirkung erst: Müdigkeit, Hunger, Schmerz? Wie weggeblasen. Geile Sache. Böcker: „Im Rauschzustand ist man euphorisch, selbstbewusst, gefühlt besonders leistungsfähig.“ Zwei Tage durcharbeiten, 30 Stunden durchtanzen? Kein Problem! „Durch die Aktivierung des Dopaminsystems wird ein unverhoffter Glückszustand ausgelöst“, so der Arzt.

Was weniger geil ist und was dem Mediziner die größten Sorgen bereitet: Crystal-Konsum geht oft mit psychotischen Störungen einher. „Allem wird eine Bedeutung zugemessen. Jeder, der vorbeiläuft, ist wichtig und verdächtig“, sagt der Arzt über die Wahnvorstellungen und Halluzinationen. So wurde einer seiner Patienten mitten im Winter nackt auf einem schneebedeckten Feld gefunden. Er hatte frierende Babys gesehen und diese zudecken wollen.

Abhängigkeit schätzungsweise höher als bei Alkohol

Die zweite große Sorge in puncto Crystal ist die Abhängigkeit. Böcker hat dazu noch keine verlässlichen Zahlen, doch er schätzt die Gefahr höher ein als bei Alkohol. „Die Abhängigkeit ist eigentlich nur eine Frage der Zeit. Aber bereits nach der ersten Nase Crystal wächst der Wunsch auf mehr.“ Oft jedoch in einer Misch-Toxikation. Crystal am Wochenende und Cannabis unter der Woche zum Runterkommen ist kein seltenes Bild.

Die oft gelesene Konsumenten-Beschreibung „durch alle Bevölkerungsschichten“ kann Felix Böcker jedoch nicht bestätigen: „Bei uns in der Klinik landen keine Manager, die durch Crystal leistungsfähiger sein wollen. Wir sehen hier vor allem Hartz-IV-Empfänger und gescheiterte Existenzen, meist im jungen Erwachsenenalter, gleich welchen Geschlechts.“ Prekäre Verhältnisse, wechselnde Partner, Gewalterfahrungen in der eigenen Familie - das sind seine Beobachtungen. Die Schlussfolgerung liegt nahe: Wer im normalen Leben keine Glücksgefühle erlebt, holt sie sich eben künstlich. Regionale Schwerpunkte sieht der Arzt nicht. Naumburg sei nicht weniger betroffen als Weißenfels, und auch im ländlichen Bereich werden die Nasen vollgezogen. Dass sich ein Hartz-IV-Empfänger eine Crystal-Sucht lange leisten kann, bezweifelt Böcker. Er stellt einen Zusammenhang mit den jüngsten Einbrüchen und Diebstählen her.

„Jeder fühlt sich machtlos“

Was der Arzt tun kann: akute Notfälle überwachen, die Abhängigkeits-Frage klären und den Patienten zur Abstinenz und weiterführender Behandlung motivieren. Die Kosten werden vom Rententräger, zur Not von den Krankenkassen oder sogar vom Sozialamt bezahlt. Und wenn der Patient nicht will? Böcker: „Wir können keinen zwingen, hierzubleiben..“ Es ist der Kampf gegen Windmühlen. Ein Lied, in das auch Polizei, Staatsanwaltschaft und Suchtberatung einstimmen könnten. Böcker: „Jeder fühlt sich bei diesem Thema machtlos und kämpft für sich. Es bräuchte aber eine gemeinsame Anstrengung, einen runden Tisch. Prävention ist das Einzige, was dieses Problem lösen kann.“

Jüngst hatte er eine junge Mutter, voll auf Crystal, eingeliefert, obwohl sie ihr zweites Kind im Bauch trug. Nach wenigen Tagen brach sie die Behandlung ab. Das Jugendamt musste entscheiden, was mit den Kindern passiert. Eine schwierige Frage, das gibt auch Böcker zu. Trotzdem sagt er: „Diese Kinder werden wir dann in 20 Jahren ebenfalls hier liegen haben“. Ob das nicht zynisch sei, fragen wir. „Nein, nur die traurige Wahrheit.“