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Aufbruch in Wittenberg Aufbruch in Wittenberg: Luthers Erbe lockt die Welt

Von Andreas Hillger 30.10.2007, 20:18

Wittenberg/MZ. - Rein rechnerisch müsste die Reformations-Dekade mit am Mittwoch beginnen, in Wittenberg aber gehen die Uhren anders: Weil der Augustiner-Mönch Martin Luther im Wintersemester 1508 an die Universität des Kurfürsten Friedrich gerufen wurde, will man das Jahrzehnt bis zur 500-Jahrfeier seines Thesenanschlags am 31. Oktober 2017 erst im kommenden Jahr einläuten - und entsprechend verkürzen. Doch dieser Aufschub kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Aufbruch im vollen Gange ist.

Die Marke Luther weckt wirtschaftliche wie missionarische Begehrlichkeiten: Schon jetzt, sagt Oberbürgermeister Eckhard Naumann, sei der Zuwachs an Touristen in der Stadt deutlich spürbar - ebenso wie die Erwartungshaltung von kirchlicher wie politischer Seite. Jedoch stellen sich unter dem Jubiläum "viele etwas, aber nicht alle das Gleiche" vor. Das beweist beispielsweise das Engagement der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), die gemeinsam mit ihren amerikanischen Partnern von der Missouri Synod das alte Knabengymnasium an der Stadtkirche erworben hat. Dass die Investoren - hinter denen allein 2,6 Millionen amerikanische Christen stehen - hier ein Pilgerzentrum mit Hauskapelle errichten wollen, hat unter Wittenberger Protestanten für Unruhe gesorgt. Immerhin bekennt sich die Missouri Synod zu einer konservativen Lehre und lehnt beispielsweise Frauen im Priesteramt kategorisch ab. Inzwischen freilich, so versichern der Wittenberger Propst Siegfried Kasparick und der SELK-Bischof Hans-Jörg Voigt unabhängig voneinander, sei man auf gutem Weg zu einer ökumenischen Zusammenarbeit, die in einer bereits beinahe unterschriftsreifen Vereinbarung festgeschrieben werden soll.

Zu Fuß nach Wittenberg

Das gedeihliche Miteinander verschiedener Bekenntnisse ist auch die Hoffnung, die der Geistliche Rat Willi Kraning mit seinem Engagement verbunden hat. Gemeinsam mit evangelischen Christen ist der Katholik jüngst von Eisleben nach Wittenberg gepilgert - auf jenem Weg also, den der Leichnam des Reformators 1546 nahm. Weil er damit auf relativ kurzer Strecke zwei entscheidende Punkte jenes Luther-Rundwanderweges verband, den die Evangelische Kirchen in Mitteldeutschland und Anhalt im Frühjahr eröffnen wollen, ist nach Kranings Aussage eine "Erkältung des ökumenischen Klimas" eingetreten. Hinter vorgehaltener Hand sprachen Kritiker der Initiative sogar vom "Leichenpilgern".

Der Ballenstedter Kreisoberpfarrer Jürgen Dittrich, der die vorbereitenden Arbeiten an dem rund 300 Kilometer langen und durch 35 Orte führenden Luther-Weg koordiniert, würde solch blasphemische Absicht freilich nie unterstellen. Immerhin wird der Wander-Pfad - dessen Eröffnung wegen verspätet gezahlter Fördermittel verschoben werden musste - ab Ende März kommenden Jahres permanent zur Verfügung stehen. Zudem soll er den Reisenden theologische, historische und ökologische Aspekte gleichermaßen erschließen - ein Spektrum, das Kraning mit seiner geistlichen Reise nicht anstrebt.

Dass sich am 10. November in Wittenberg eine Internationale Luther-Stiftung gründen wird, die mit Unterstützern wie dem früheren US-Botschafter John Kornblum und der Bundestags-Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt die "Grundimpulse der Reformation" in einen "Dialog von Kirche, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik übersetzen" will, passt ins Bild - ebenso wie die bevorstehende Einrichtung einer Wittenberger Stabsstelle der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für das Jahr 2017. Die Dachorganisation der Protestanten ist am 21. November auch Gastgeber jenes Kuratoriums, in dem die mitteldeutschen Bundesländer und Kirchen gemeinsam über die Reformations-Dekade beraten wollen.

Spirituelle Sehnsucht

Vielleicht wird man dabei auch Gelegenheit finden, über den Begriff des Pilgerns zu reden. Denn der ist derzeit zwar in aller Munde - aber alles andere als lutherisch. "Das Geläuff", wie Luther die Reise zu heiligen Orten abfällig nannte, widerspricht als aktives Werk schließlich dem Glauben, dass Vergebung allein aus der Gnade Gottes kommen kann. Als Ausdruck einer spirituellen Sehnsucht aber illustriert er zugleich jene Dynamik, die Oberbürgermeister Naumann mit Blick auf 2017 zunehmend beobachtet. Und die, so sagt er, sei hoch willkommen - weil sie den Blick auf die Provinz von Weltgeltung lenkt.