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Aufarbeitung 1933 bis 1945  Aufarbeitung 1933 bis 1945 : Die Orte des Bösen in Sachsen-Anhalt

Von Steffen Könau 19.07.2013, 17:30
Reinhard Heydrich (7.v.l.) aus Halle war Hitlers Planer für den Judenmord - hier feiert er mit Heinrich Himmler in Quedlinburg den Todestag von Heinrich I.
Reinhard Heydrich (7.v.l.) aus Halle war Hitlers Planer für den Judenmord - hier feiert er mit Heinrich Himmler in Quedlinburg den Todestag von Heinrich I. Wikimedia Lizenz

Der Titel allein ist schon ein Widerspruch. „Sachsen-Anhalt 1933 bis 1945“ hat der Berliner Historiker Willy Schilling einen Reiseführer in die dunkelsten Ecken zwischen Altmark und Zeitz genannt - in vollem Bewusstsein darum, dass es das Land Sachsen-Anhalt in jenen Jahren gar nicht gab. Damals schmiedeten die Nationalsozialisten aus Teilen der preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt die beiden Gaue Magdeburg-Anhalt mit Sitz in Dessau und Halle-Merseburg mit Sitz in Halle.

Festnahme rettete Ernst Reuter

Doch eine Reise in vermintes Gebiet braucht klare Beschreibungen - und Willy Schilling reist eben im Sachsen-Anhalt von heute in die Zeit, als nicht mehr Länderparlamente, sondern Reichsstatthalter die Region regierten. Nach einem Machtwechsel, der in Magdeburg gewaltsam über die Bühne ging: Im März 1933 drangen bewaffnete SA-Leute ins Rathaus ein und attackierten und verprügelten Oberbürgermeister Ernst Reuter, den nur ein anwesender Polizist zu retten vermochte. Indem er ihn kurzerhand festnahm.

In den Jahren danach entwickelt sich das heutige Sachsen-Anhalt zu einer der wirtschaftlich wichtigsten Regionen des 3. Reiches. Großunternehmen im Fahrzeug- und Maschinenbau in Magdeburg und Dessau versorgen die Wehrmacht, die Industrie im Chemiedreieck um Leuna, Buna und Bitterfeld liefert Grundstoffe für die Aufrüstung und ohne die Sprengstoffwerke in Reinsdorf, die Hydrierwerke von Tröglitz und den riesigen Truppenübungsplatz in der Colbitz-Letzlinger Heide hätte ein Angriff etwa auf die Sowjetunion nicht einmal Anfangserfolge versprochen.

Willy Schillings Reise einmal quer durchs ganze Land führt an die Orte, die noch heute Geschichte atmen. Von der Synagoge in Magdeburg, die 1851 eingeweiht worden war und am 10. November 1938 komplett ausbrannte, geht es zum Polizeipräsidium, in dem zwischen 32 und 45 mehr als 40.000 Menschen inhaftiert wurden, die meisten von ihnen religiös, weltanschaulich oder rassisch verfolgt. Auch die Stätten, an denen die Räder für den Sieg rollen mussten, werden gezeigt: Die Polte Armaturenwerke, in denen Zwangsarbeiter Munition herstellen, oder das Schiffshebewerk Rothensee, das von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß selbst eingeweiht wurde, weil die Spitze der NSDAP sich der Bedeutung schnellen Gütertransports Richtung Osten sehr wohl bewusst war.

Mehr als tausend KZ-Häftlinge erschossen

Auch die Personen hinter der Organisation des Grauens werden beleuchtet. Rudolf Jordan etwa, der den Eisleber Blutsonntag zu verantworten hat, bei dem SA-Leute zwei KPD-Gebäude stürmten, auf die Anwesenden schossen und mit Feldspaten auf sie einknüppelten. Drei KPD-Männer starben, 24 weitere wurden schwer verletzt, Jordan stieg zum Gauleiter auf. Bei Kriegsende war er 42 Jahre alt, die Briten überstellten ihn in sowjetische Gefangenschaft. 1955 entlassen, arbeitete Rudolf Jordan bei einem Flugzeughersteller in München. Joachim Albrecht Eggeling hingegen, Jordans Gauleiter-Kollege in Halle, machte ähnlich Karriere, versuchte aber ganz zum Schluss, im Führerbunker die Genehmigung zu bekommen, Halle an die Amerikaner zu übergeben.

Das wurde verwehrt, Eggeling erschoss sich daraufhin in den Gewölben der Moritzburg. Ob im Norden, im Westen, im Osten oder im Süden - das Land ist voll von solchen Geschichten, von Orten des Bösen und Plätzen, an denen jeder Stein Erinnerung in sich trägt wie an der Feldscheune in Isenschnibbe, wo SS-Leute kurz vor Kriegsende mehr als tausend KZ-Häftlinge erschossen. Nur sind die wenigsten so bekannt und so offensichtlich. Stehen in Isenschnibbe, an der Elbbrücke Tangermünde, über die in den letzten Kriegstagen rund hunderttausend Deutsche nach Westen entkamen, und an der Landesheilanstalt Bernburg, die für das NS-Euthanasieprojekt T4 missbraucht wurde, Gedenksteine, so scheint das Werksgelände des Radioherstellers Staßfurter Licht- und Kraftwerke unverdächtig. Und doch wurde hier die Basis für die Herrschaft Hitlers gelegt: Im Rahmen der sogenannten Behördenfertigung entstand in Staßfurt der Volksempfänger VE301 - so genannt nach dem Tag von Hitlers Machtergreifung am 30. Januar. Über das Massenmedium Radio erreichte Hitler sein Volk. Später produzierte das Werk Funkgeräte für die Wehrmacht.

Bücherverbrennung auf dem Universitätsplatz in Halle

Der totale Krieg, den Goebbels einst verkündete, hat auch in Sachsen-Anhalt unauslöschliche Zeichen hinterlassen. Auf Orwo-Film aus Wolfen drehten Marika Rökk und Willy Fritsch aufmunternde Kinofilme. Die Neueröffnung des Dessauer Landestheaters im Mai 1938 verfolgte Adolf Hitler selbst aus der Führerloge. Und auf Schloss Lichtenburg war die KPD-Geheimagentin Olga Benario eingesperrt, die später in Bernburg vergast wurde. Schilling lässt die Gedenkstätten nicht aus, zeigt aber vor allem die unbekannten Orte, an denen heute niemand mehr Geschichte vermutet. Der Universitätsplatz in Halle etwa war im Mai 1933 Schauplatz einer Bücherverbrennung, bei der Studenten und Dozenten begeistert Kästner, Remarque und Heinrich Mann in die Flammen warfen. Aus dem Gebäude des Oberlandesgerichtes in Naumburg hingegen wurden Zwangssterilisationen und Einweisungen in die Psychiatrie verfügt. Und aus den Gebäuden der Saalecker Werkstätten bei Bad Kösen pflegte der legendäre Saaleck-Gründer Paul Schultze-Naumburg enge Kontakte mit Göring, Hitler und anderen Größen, die sich von seinen Ideen zum Beispiel zu ihrem Erbhofgesetz inspirieren ließen.

Zwölf Jahre nur dauerte das Tausendjährige Reich und doch veränderte es den Blick auf Stätten, Orte und Plätze nachhaltig, wie Willy Schilling zeigt. Alle Denkmale, die sich das Regime selbst errichtete, sind ebenso abgerissen und geschleift wie die Nachfolge-Monumente aus DDR-Zeiten. Doch Fabriken, Baracken der ehemaligen Lager und prägnante Gebäude wie die unübersehbare Tankstelle vor dem Haupteingang der Leuna-Werke stehen an derselben Stelle wie damals - Schillings ungewöhnliches Reisebüchlein hilft, sie wachen Auges zu sehen und zu verstehen.

Weitere Informationen: Willy Schilling, Sachsen-Anhalt 1933-1945, Ch. Links-Verlag, 14,90 Euro

An Napolas wie in Naumburg sollte die künftige Führungsschicht für das tausendjährige Reich ausgebildet werden.
An Napolas wie in Naumburg sollte die künftige Führungsschicht für das tausendjährige Reich ausgebildet werden.
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In den Bunkern der Heeresmunitionsanstalt Kapen wurden nach dem Krieg hunderte Behälter mit chemischen Kampfstoffen vergraben .
In den Bunkern der Heeresmunitionsanstalt Kapen wurden nach dem Krieg hunderte Behälter mit chemischen Kampfstoffen vergraben .
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Direkt vor den Toren des Leuna-Werkes stehen heute noch Reste einer Tankstelle, die einst „deutsches Benzin“ verkaufte.
Direkt vor den Toren des Leuna-Werkes stehen heute noch Reste einer Tankstelle, die einst „deutsches Benzin“ verkaufte.
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