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Anti-Gewalt-Training Anti-Gewalt-Training: Flirten statt Zuschlagen

Von Kai Gauselmann 14.11.2005, 19:44

Magdeburg/MZ. - Gewalt ist ein Massenphänomen, viele der gefassten Schläger sind Wiederholungstäter. Ein Projekt im Magdeburger Gefängnis durchbricht erfolgreich die Gewaltspirale - und soll jetzt landesweit Schule machen.

Guido verschränkt seine muskulösen Arme, auf die blaue Frauen und grüne Schlangen tätowiert sind. Er kneift die Augen zusammen, als lese er einen Text vom grauen, durch das Gitter des Fensters zerschnittenen Himmel. "Ich mache bei dem Training mit, damit ich dort draußen nicht mehr austicke", sagt er.

Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Magdeburg ist ein düsterer Bau mit meterhohen Ziegelmauern plus Stacheldraht; endlose, verschachtelte Gänge. Raub, Diebstahl und gefährliche Körperverletzung - seit fast sechs Jahren ist Guido hier, nicht sein erster Aufenthalt. "Insgesamt bin ich seit 18 oder 20 Jahren im Knast. Wenn Sie es genau wissen wollen, muss ich erst nachrechnen." Er ist 38 Jahre alt und hat eine zwölfjährige Tochter, der er noch nicht besonders lang an einem Stück beim Aufwachsen zuschauen konnte. Das will er ändern, in einem halben Jahr kommt Guido raus. Und nachdem er das halbe Leben im Knast saß, will er nur noch ungeteilten Himmel sehen. Dafür muss verschwinden, was mit ihm verbunden ist wie die Tätowierungen: Der Hang zur Gewalt. "Das steckt einfach in mir drin", sagt Guido, "und es kommt heraus, wenn ich getrunken habe".

Helfen sollen ihm die "zwei Marxisten", wie ein Teilnehmer sie scherzend nennt: Tim und Anke Marx. Die Mittdreißiger sind ein Paar, beide arbeiten als Sozialarbeiter, sie in der JVA, er draußen als Bewährungshelfer. 1998 haben sie "AGT" gestartet: Das Anti-Gewalt-Training, dem einzigen dieser Art im Land. Es findet einmal die Woche vier Stunden lang statt und dauert ein halbes Jahr. Die Teilnahme ist freiwillig, es winken weder Hafterleichterungen, noch eine Haftverkürzung. Obendrein stehen die derzeit acht Teilnehmer unter Beobachtung. Etwa nochmal so viele Gäste verfolgen das Training: Psychologiestudenten, Sozialarbeiter, die das Projekt auch in Niedersachsen einführen wollen, und ein Anwalt. "Ich habe oft mit solchen Leute zu tun, ich will erleben, wie die ticken", sagt der Jurist.

"Diese Leute fühlen sich schnell gereizt - und dann wollen sie mit Gewalt zeigen, was sie für ein Mann sind", sagt Anke Marx. Das sollen sie künftig ohne Fäuste tun: Deshalb gehört zu dem AGT, das aus gut einem Dutzend Schritten besteht, etwa ein Kommunikationstraining. "Viele können gar nicht richtig reden." Wenn überhaupt, fielen ihnen nur Fäkalausdrücke ein. Dabei sei schon Duzen bei einem Konflikt für das Gegenüber eine Grenzüberschreitung. Deshalb müssen die Teilnehmer kleine Vorträge halten. Dabei bröckelt die raue Schale. "Die sind gar nicht so hart. Sie stehen dann da, stotternd und mit schweißnassen Händen." Die Kür ist indes ein Flirttraining: Eine Bar-Szene wird nachgespielt, die Häftlinge sollen versuchen mit einer der weiblichen AGT-Gäste ins Gespräch zu kommen.

Härter geht es bei der Deeskalation zu, die Wege zu Gewaltvermeidung und Gelassenheit zeigen soll. Dabei werden die Häftlinge von erfahrenen Polizisten gereizt, beschimpft, angepöbelt, angefasst. "Die machen das so gut, nach vier Sekunden merkt keiner mehr, dass das gestellt ist", sagt Tim Marx. Beim ersten Versuch scheitere jeder, es gehe aber nur "bis an die Grenze einer Schlägerei". Deshalb erfahrene Polizisten: Sie wissen, wann es ernst wird. Das Bündel der AGT-Maßnahmen ist eine Kehrtwende in der Resozialisierung. Früher habe man in der Vergangenheit der Täter nach Ursachen gesucht. "Davon gehen wir weg", sagt Tim Marx, "wir zeigen lieber Methoden, damit die Leute nicht mehr ausrasten." Und das sei sehr erfolgreich. Von bislang 45 Absolventen seien nur fünf wieder durch Gewalt aufgefallen. "Das ist eine Rückfallquote von elf Prozent - normal sind 50 bis 60 Prozent", so Marx.

Der kleine Erfolg im Kampf gegen ein großes Phänomen (siehe Grafik) ist nicht verborgen geblieben. "Die Teilnehmer lernen, Gewalt durch Denken zu ersetzen", lobt Justizminister Curt Becker (CDU). "Wir halten das Training für eine interessante Methode und wollen es gerne landesweit ausdehnen", sagte Becker der MZ.