Aktion zur Verkehrssicherheit Aktion zur Verkehrssicherheit: Kreuze gegen die Verdrängung
Magdeburg/MZ. - Die Uhr tickte. Er kam schon wieder zu spät zur Verabredung. Dabei hatte er seinen Kumpels fest versprochen, diesmal rechtzeitig loszufahren. Er raste in eine Kurve. Ein Auto kam ihm entgegen. Die grellen Scheinwerfer blendeten. Wütend sah er dem Fahrzeug hinterher. Als er sich wieder nach vorn drehte, ratterten schon Schottersteine wie eine Maschinengewehr-Garbe gegen das Bodenblech. Vor ihm flammte etwas Braunes auf. Ein Baum. Er sah, wie sich der Motorraum eindrückte und aufspaltete, hörte das Metall kreischen, als der Motor in den Baum schlug. Masse mal Beschleunigung fiel ihm ein. Physikunterricht. Die Lenksäule bohrte sich in den Oberbauch. Seine Arme und Handgelenke barsten. Seine Füße wurden aus den neuen Turnschuhen gerissen. Er konnte nichts mehr fühlen. Er hörte auch nicht die Uhr, die immer noch tickte. . .
Ein Schicksal von 1164 jungen Menschen, die seit 1991 auf Sachsen-Anhalts Straßen in den Tod fuhren, als Täter oder als Opfer. Literarisch verarbeitet hat es der Student Sebastian Rogge als 19-Jähriger. Gedruckt ist die ganze, nahegehende Geschichte "In letzter Sekunde" jetzt erstmals in einem Katalog zur Ausstellung "Straßenkreuze - Unorte des Sterbens", die gestern im Funkhaus des Mitteldeutschen Rundfunks in Magdeburg vorgestellt wurde.
100 Kreuze, die allgegenwärtig an Sachsen-Anhalts Straßenrändern mahnen, haben die halleschen Künstler Karin Jarausch und Rüdiger Giebler fotografiert. Mit Unterstützung des Innenministeriums und der Öffentlichen Versicherungen wurde daraus eine eindringliche Schau, die in den Schulen des Landes gezeigt werden soll. "Hundert Anfragen gibt es schon", sagte gestern Innenminister Manfred Püchel (SPD) bei der Vorstellung der neuen Aktion zur Verkehrssicherheit. "Mit den Fotografien soll versucht werden, eine Seite der Alltagskultur zu dokumentieren, die in den Köpfen präsent ist, aber von enormen Verdrängungsmechanismen begleitet wird."
Polizeiseelsorger Ulrich Hänel hat diese Verdrängung hautnah erlebt. Als Mitglied im 25-köpfigen Kriseninterventionsteam im Bereich Halle und Saalkreis hatte er einmal Jugendliche betreut, die bei einer Spritztour ihren vorausfahrenden Freund bei einem schweren Unfall sterben sahen. "Später habe ich die Jungs bei einer Geschwindigkeitskontrolle wiedergetroffen. Sie waren wieder viel zu schnell."
Die Folgen erleben die Unfall-Helfer mit brutaler Regelmäßigkeit. "Ein VW Golf steht quer, das Heck halb im Graben. Hinter dem Steuer sitzt ein junger Mann. Er schreit vor Schmerzen, immer wieder", erinnert sich der Polizeiobermeister Torsten Schmidt vom Revier Blankenburg an einen seiner Unfall-Einsätze. "Keine der Türen ist zu öffnen. Der Junge guckt mir in die Augen. Sein Gesicht ist zerschnitten. Ich weiß, dass ich ihm allein nicht helfen kann. Hinter dem Golf steht ein weiterer Pkw. Er ist nur noch etwa einen Meter breit. Hinten rechts sitzt eine junge Frau mit gesenktem Kopf. Die Fahrerin. Ich spreche die Frau an - keine Reaktion. Sie ist tot. Über Funk übermittele ich meine Feststellungen - ohne Emotionen, nur Fakten. Der Unfall wird aufgenommen, die Verletzten versorgt, der Leichnam vom Bestatter abgeholt. In der Dienststelle wird eine Verkehrsunfallanzeige gefertigt - nur Fakten. Erst abends unterhalte ich mich mit meiner Frau über den Unfall. Immer noch höre ich die Schreie."