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Abwassergebühren  Abwassergebühren : Betroffene wollen bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen

Von Hendrik Kranert-Rydzy 08.04.2016, 17:23
Abwasser fließt aus einem Waschbecken.
Abwasser fließt aus einem Waschbecken. dpa/Symbol Lizenz

Magdeburg - „Wir werden den Weg bis zum Ende gehen - bis vors Bundesverfassungsgericht.“ Wolf-Rüdiger Beck, Vorsitzender des Initiativnetzwerks Kommunalabgaben in Sachsen-Anhalt (Inka), sieht in einer Verfassungsklage vor dem höchsten deutschen Gericht inzwischen die einzige Chance, die nachträglichen Gebührenforderungen zahlreicher Abwasserverbände im Land zu stoppen. Gemeinsam mit dem Landesverband der Immobilieneigentümerorganisation „Haus und Grund“ wollen sie ein Musterklageverfahren anstrengen.

Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dürfen Grundstückseigentümer nicht bis zum St. Nimmerleinstag für entstandene Kosten beim Bau von Abwasseranlagen und Kanälen zur Kasse gebeten werden - als gangbare Frist wurden zehn Jahre angesehen. In Sachsen-Anhalt wurde das Kommunalabgabengesetz 2014 entsprechend geändert, doch die Änderung trat erst zum Ende des Jahres 2015 in Kraft. Heißt: Die Verbände hatten ein Jahr zusätzlich Zeit, alles in Rechnung zu stellen, was seit 1991 in Sachsen-Anhalt gebaut wurde.

Die Debatte um den Herstellungsbeitrag II in Sachsen-Anhalt ist auch deswegen so hochgekocht, weil es für viele der rund 80.000 betroffenen Grundstückseigentümer um sehr hohe Geldsummen geht. Zum Teil fordern die Abwasserzweckverbände fünf- oder gar sechsstellige Beträge. Wie hoch die Rechnung ist, ergibt sich aus der Grundstücksfläche. Für Unverständnis sorgte bei vielen Betroffenen, dass die Abwasserzweckverbände jahrelang keine Forderungen verschickt hatte - und im vergangenen Jahr, kurz vor Fristende, plötzlich Zehntausende Rechnungen versendeten. Der Unmut der Bürger - und aufsehenerregende Gerichtsurteile zugunsten von Betroffenen in Brandenburg - hatten das Innenministerium in Sachsen-Anhalt dazu veranlasst, den Abwasserzweckverbänden im Januar einen Geldeintreibungsstopp zu empfehlen. Seitdem gilt: Die Landesregierung will die entstandene Rechtslage in Sachsen-Anhalt von einem externen Gutachter prüfen lassen. Dies hielt Bürgerinitiativen nicht davon ab, Klagen anzukündigen.  (js)

Hinzu kommt, dass die Regelung nicht nur für neue Anlagen ab 1991 gilt, sondern auch sogenannte Alteigentümer zur Kasse gebeten werden können, bei denen Kanäle und Kläranlagen schon vor dem Zweiten Weltkrieg entstanden - es geht hier um den sogenannten „Herstellungsbeitrag II“. Auf Druck des Innenministeriums forcierten die Verbände die Rechnungslegungen - inzwischen sind nach Schätzungen von „Haus und Grund“ bis zu 80 000 Bescheide im Land verschickt worden. Nicht alle Verbände finden das toll, so befürchtete der Chef des Verbandes Bode-Holtemme im Harz, Nicolai Witte, eine Klagewelle. Zumal viele Anlagen längst refinanziert sind und im Detail oftmals nicht nachweisbar ist, welchen Vorteil ein Grundstückseigentümer tatsächlich vom Abwasseranschluss hat.

Witte sollte Recht behalten, Inka-Chef Beck geht davon aus, dass im Schnitt die Hälfte aller Betroffenen gegen ihren Bescheid Widerspruch eingelegt hat - „es geht um Zehntausende Verfahren“. Allein beim Abwasserverband Wolmirstedt nördlich von Magdeburg seien von 18.000 Betroffenen 15.000 in Widerspruch gegangen, sagt der Sprecher der örtlichen Bürgerinitiative, Stefan Heinrichs.

Widersprüche, die die Verbände in der Regel nicht akzeptieren - die Grundstückseigentümer müssten dann gegen ihren Bescheid klagen. Im Fall eines Betroffenen aus der Region Bitterfeld hatte das Oberverwaltungsgericht Magdeburg jedoch gegen den Kläger entschieden. Das Urteil nicht anfechtbar - doch genau das wollen „Inka“ und „Haus und Grund“ mit einer Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen die Nichtzulassung der Berufung noch ändern. „Inka“-Chef Beck hat allerdings wenig Hoffnung, dass dies gelingt, so dass im Anschluss nur der Gang zum Bundesverfassungsgericht bliebe. „Alle Bürgerinitiative sind sich aber einig, dass wir das durchziehen.“

Verbände "torpedieren" Musterklage

Gleichzeitig warf der Landespräsident von „Haus und Grund“, Holger Neumann, CDU und SPD vor, Versprechungen aus dem Wahlkampf gebrochen zu haben. So sollte die Bearbeitung der Widersprüche ausgesetzt werden, bis eine abschließende Klärung der Rechtslage erfolgt sei. Dazu war geplant gewesen, einen externen Gutachter einzusetzen. Dies passiere jedoch nicht, sagte Neumann.

Zudem „torpedieren“ einzelne Verbände die Bestrebungen für eine Musterklage. Laut BI-Chef Heinrichs müssten die Verbände dazu die Widerspruchsbearbeitung bis zum Ende der Musterklage einstellen - dies passiere aber nicht. Damit entstehe ein enormes Prozesskosten-Risiko für die Verbände. Heinrichs bezifferte dies allein bei 200 Klagen auf 600.000 Euro - dies könne der Verband nicht aus eigener Kraft stemmen, sondern müsste sich das Geld von seinen Mitgliedsgemeinden zurückholen. Eine Musterklage würde das finanzielle Risiko für Kläger und Beklagte hingegen auf insgesamt 10.000 Euro begrenzen.

Parallel zur Musterklage haben die Linken im Landtag auch eine Normenkontrollklage gegen das Kommunalabgabengesetz vor dem Landesverfassungsgericht angestrengt. (mz)