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67-Jährige leidet an seltener Krankheit  67-Jährige leidet an seltener Krankheit : Von einer jahrelangen Ärzte-Odyssee

Von Bärbel Böttcher 03.10.2015, 16:00
Ingrid März erhält von Dr. Frank Hoffmann eine Spritze mit Botulinumtoxin. Diese hilft gegen ihren Lidkrampf.
Ingrid März erhält von Dr. Frank Hoffmann eine Spritze mit Botulinumtoxin. Diese hilft gegen ihren Lidkrampf. Martina Hoffmann Lizenz

Halle (Saale) - Dass mit ihr etwas nicht stimmt, hat Ingrid März im Jahr 2000 während einer Umschulung gemerkt. Immer öfter versagten ihr die Augen den Dienst. Immer wieder musste sie sie zusammenkneifen. Ob sie wollte oder nicht.

Und - das Neonlicht im Raum störte ungemein. Zunächst vermutete die heute 67-Jährige, dass die grelle Beleuchtung Ursache ihrer Beschwerden ist. Als die aber auch in anderer Umgebung auftraten und immer schlimmer wurden, ging sie zum Arzt. Es begann eine Odyssee zwischen Hausarzt, Augenarzt und Neurologen. Fünf Jahre dauerte es, bis die richtige Diagnose gestellt wurde: Dystonie.

„Eine schlimme Zeit“

„Das ist eine neurologische Erkrankung, eine Bewegungsstörung, die durch Fehlsteuerungen im Gehirn hervorgerufen wird und durch unwillkürliche und oft länger anhaltende Muskelverkrampfungen gekennzeichnet ist“, sagt Dr. Frank Hoffmann, bei dem Ingrid März heute in Behandlung ist. Der Lidkrampf, unter dem sie leidet, gehöre zu den häufigsten Erscheinungsformen der Krankheit. Im schwersten Fall könne der „sehenden Auges zur Blindheit führen“, erklärt der Chefarzt der Klinik für Neurologie am Krankenhaus Martha-Maria in Halle. Die Krankheit könne aber auch jede andere Körperregion betreffen und sich zum Beispiel als Schiefhals (Torticollis) oder Schreibkrampf zeigen.

Dystonien gehören zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen. Davon wird gesprochen, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Mehr als 5.000 von insgesamt 30.000 beschriebenen Krankheiten gelten als selten. Deutschlandweit sind etwa vier Millionen Menschen betroffen. Und wie Ingrid März müssen sie oft lange leiden, bevor die richtige Diagnose gestellt und eine entsprechende Therapie eingeleitet wird.

Krankheit schreitet fort

„Die fünf Jahre, in denen ich nicht wusste, was mit mir los ist, waren eine schlimme Zeit“, sagt sie. Die Krankheit sei immer weiter fortgeschritten. Gleichzeitig habe sie von anderen gehört, dass sie sich das alles wohl nur einbilde oder dass die Zwinkerei nur an ihrer Nervosität liege. „Wir werden alle erst einmal in die Psycho-Ecke gestellt“, betont Ingrid März. Schließlich glaubte sie das selbst, wollte sich zwingen, die Augen offen zu halten. „Dabei ist es so, als ob jemand an meinen Augenlidern hängt und sie zuziehen will.“

„Dystonie galt lange als eine seelische Erkrankung“, bestätigt Frank Hoffmann. „Es hieß zum Beispiel, die Patienten verschließen die Augen vor der Wirklichkeit.“ Das sei natürlich Unsinn. „Dystonie ist eine Erkrankung die nicht mit Psychotherapie, sondern mit körperlich wirksamen Medikamenten behandelt werden muss“, betont der Arzt. „Und zwar mit Botulinumtoxin - umgangssprachlich auch Botox genannt.“ Es ist übrigens der lateinische Name für Wurstgift. Entdeckt hat es der Heilbronner Amtsarzt Justinius Kerner - nachdem auch eine Weintraube benannt ist - bereits vor über 200 Jahren. Er bemerkte, dass Lebensmittelvergiftungen oft durch Fleisch oder Wurst hervorgerufen werden und gab dem vermuteten Wirkstoff den entsprechenden Namen. Gleichzeitig erkannte er, dass das Gift die Muskeln entspannt und empfahl die Behandlung damit in geringen Dosen. Genau das passiert bei der Dystoniebehandlung. Und da bemerkt wurde, dass die Patienten ganz nebenbei schön faltenfrei wurden, nutze ihn später die Kosmetikindustrie.

Unangenehme Behandlung

Alle drei Monate kommt Ingrid März nun zu Frank Hoffmann und lässt sich Botulinumtoxin spritzen. „Die Behandlung ist sehr unangenehm“, urteilt der Mediziner, der einer der wenigen Spezialisten auf diesem Gebiet ist. „Der Arzt muss an mehreren Punkten in die Augenmuskulatur stechen.“ Das erfordere sehr viel Erfahrung. „Werden die falschen Muskeln behandelt, kann es zu Nebenwirkungen kommen.“ Bleibende Schäden könnten dadurch allerdings nicht auftreten. Denn die Wirkung der Spritze lasse nach einiger Zeit nach. Das ist auch der Grund, weshalb sich die Patienten regelmäßig eine neue abholen müssen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite unter anderem, wie die Krankheit den Alltag von Ingrid März einschränkt und welchen langen Kampf sie deshalb vor dem Gericht austragen musste.

Ingrid März nimmt das gern in Kauf. Sie ist froh, dass ihre Krankheit nun einen Namen hat. Und dass ihr bis zu einem gewissen Grade geholfen werden kann. Denn trotz aller Spritzen: „Meine Lebensqualität hat doch sehr gelitten.“ So kann die Rentnerin nicht mehr Autofahren. Erst 1997 hat sie ihren Führerschein gemacht. War stolz, dass im fortgeschrittenen Alter noch geschafft zu haben. Doch bald kamen die Probleme mit den Augen. Dadurch ist auch langes Fernsehen nicht drin. Und obwohl sie eine Leseratte war, muss sie nun auf Bücher verzichten. Lesen geht nicht mehr. „Die größten Probleme habe ich aber im Freien“, sagt Ingrid März. „Am besten ist es, wenn ich nach unten schaue. Doch es kostet unheimlich viel Kraft, auf der Straße mit niemanden zusammenzustoßen.“ An einer Ampel warte sie ab, bis die anderen loslaufen.

Es sind nicht nur die alltäglichen Probleme, die den Menschen mit einer Seltenen Erkrankung das Leben schwer machen. Ingrid März erzählt von ihrem langen Kampf vor Gericht um die Bestätigung, dass sie zu 50 Prozent schwerbehindert ist. Bis nach Hessisch-Oldendorf bei Hameln in Niedersachsen musste sie zur Begutachtung ihres Leidens fahren. Sieben Jahre sind schließlich bis zur Anerkennung vergangen. Und die hatte eine große Bedeutung. Die heute 67-Jährige musste wegen der Erkrankung mit 61 in den Ruhestand gehen und große Abzüge hinnehmen. Nun bekommt sie die volle Rente.

Entlastender Austausch

Solche Geschichten hört Frank Hoffmann von seinen Patienten immer wieder. „Das Schwerbehindertenrecht kommt mit ihnen nicht klar“, sagt er. Wenn jemandem ein Arm fehle, so sei die Sache klar, doch wenn jemandem bescheinigt wird, dass sie er zwar sehen kann, aber die Augen nicht aufmacht, dann zweifelten die Behörden. Er empfiehlt den Betroffenen deshalb, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. „Den Patienten hilft es schon, sich mit Menschen auszutauschen, die die gleichen Probleme wie sie haben“, unterstreicht er. Diese Erfahrung hat auch Ingrid März gemacht. Inzwischen leitet sie selbst eine solche Gruppe. Sie bekommt jede Woche Anrufe von Betroffenen aus der ganzen Bundesrepublik, die den gleichen Leidensweg wie sie hinter sich haben.

Treff der Selbsthilfegruppen

Rund 90 Selbsthilfegruppen für Menschen mit Seltenen Erkrankungen gibt es bundesweit. Vor zehn Jahren haben sie sich zu einem Netzwerk zusammengeschlossen - zur „Allianz Chronischer Erkrankungen“ - kurz Achse genannt. Seit 2011 trifft sich ein Teil dieser Gruppen jeweils im Februar zu einem Aktionstag am Städtischen Klinikum Dessau. Koordinator des Treffens ist der dortige Chefarzt der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie, Immunologische Zentrum, Professor Christos Zouboulis. Der Mediziner, der sich seit Jahren für diese Patientengruppe engagiert, sagt: „Ich möchte den Menschen mit Seltenen Erkrankungen ein Forum anbieten, ein Forum, wo Ärzte und Patienten zusammentreffen“, sagt er. Doch der Mediziner sieht noch ganz andere Wirkungen der Selbsthilfegruppen. Langfristig gesehen sei das ein politischer Druck. „Als einzelner finden Sie kein Gehör. Wenn aber eine große und starke Gruppe lautstark auf ihr Anliegen aufmerksam macht, ist das schon anders“, betont er. Hinzu komme, dass auch Krankenkassen auf Selbsthilfegruppen anders reagierten als auf einzelne Versicherte.

Ingrid März weiß durch ihre Arbeit in der Selbsthilfegruppe von vielen verzweifelten Menschen. Sie selbst, so sagt sie, habe sich trotz aller Widrigkeiten mit der Krankheit arrangiert. „Ich habe Dystonie, das kann ich nicht ändern. Also mache ich das Beste daraus.“ Auch wenn das manchmal schwer ist. Mehr Infos im Internet: www.dystonie.de. (mz)