25 Jahre nach dem Mauerfall 25 Jahre nach dem Mauerfall: Alte Hölle ist nicht mehr

Bitterfeld - Sicher ist hier nichts. Sicher ist höchstens eins: Jederzeit kann eine Katastrophe passieren. So wie an diesem Sommertag. Bitterfeld im Chemiedreieck im Bezirk Halle der DDR: Es ist der 11. Juli 1968. Ein Knall reißt die Stadt aus dem Alltag. Der PVC-Betrieb des Elektrochemischen Kombinats liegt nach einer Explosion in Trümmern. 42 Leute sind tot, 200 sind verletzt.
„Es musste immer laufen.“
Walter Schliephake hat es erlebt. Der Instandhaltungsingenieur, der mit seinen Leuten dafür zuständig ist, dass es in den benachbarten Großbetrieben Phosphor, Graphit, Chromat rund läuft, sagt: „Unsere Betriebe waren ja Vorvorkriegsware. Wir hatten mächtig zu tun.“ Der Mann, über den seine Frau sagt, dass er in seinen Arbeitsjahren im Chemiekombinat (CKB) Glück für drei Leben hatte, winkt ab. „Das gab es in der DDR nicht, dass die Produktion stillsteht, es musste immer laufen.“
Größte Angst der DDR-Führung
Dass es gerade in Bitterfeld und Wolfen nicht läuft, das ist die größte Angst der DDR-Führung. Weit über 3 000 Zwischen- und Endprodukte werden hier hergestellt. Käme noch mehr Sand ins Getriebe, würde das „zu bedeutenden nachteiligen Auswirkungen in allen Bereichen der Volkswirtschaft“ führen. So steht es in einem Stasi-Bericht. 1989 wird die Öffentlichkeit erfahren, wie es wirklich aussah.
Wer weiß schon, dass die Hälfte der CKB-Mitarbeiter „ernsthaften gesundheitlichen Schädigungen ausgesetzt“ ist? Und dass etwa ein Viertel von ihnen an Anlagen arbeitet, die „im gesetzlosen Zustand“ weiter betrieben werden müssen? Dass die Energieversorgung erneuert werden müsste, es aber keinen Stahl gibt für Masten? Dass die Luft zusehends schmutziger wird, weil die Filter verschlissen sind? Und dass 1988 die Giftmüll-Deponie Grube „Antonie“ voll sein wird und es keine Alternative gibt? Ganz zu schweigen von der Säure im Erdreich, die die Fundamente von Anlagen angreift, dass die Schlagseite kriegen.
Mit welchen Problemen Bitterfeld in den 70er Jahren zu kämpfen hatte, lesen Sie auf Seite 2.
Fred Walkow zieht ganz nüchtern Bilanz: „Alles war massiv runtergekommen“, sagt der Umweltdezernent des Landkreises Anhalt-Bitterfeld. „Das Elend hatte Gründe, die lagen in der Staatspolitik.“ In den 70er Jahren erwirtschaften Filmfabrik und CKB allein sage und schreibe 16 Prozent des DDR-Außenhandelsumsatzes. Doch das, was hier erarbeitet und mit der Gesundheit der Leute bezahlt wird, wird anderswo investiert. Nirgends im Land sieht es besser aus. In Bitterfeld aber ist die Situation am schlimmsten.
Abenteuerlichste Landschaften
„Es ist die Komplexität und die Kompliziertheit der Probleme, die sich aus dem Gemenge von Kohle und Chemie ergeben“, erklärt er. Walkow, früher Chemiker in der Filmfabrik, weiß, wovon er spricht. Sein Weg damals zur Arbeit von Morl im Saalekreis nach Wolfen führt vorbei an abenteuerlichsten Landschaften: Da ist dieses riesige Gruben-Loch neben der Landstraße, das sich mit Chemieabfällen füllt. Da ist die Kreuzung, an der der Schornstein gelben Qualm ausspuckt oder roten. Und da ist der stinkende Silbersee mit den dicken Schaumfetzen.
„Das haut einen Chemiker nicht aus den Socken. Aber dass das nicht gut sein kann, das weiß man. Ich hab das verdrängt.“ Als jedoch die Misere DDR Ende der 80er immer größer wird, sucht Walkow Leute, mit denen er reden kann, die sich für die Umwelt engagieren. „Mein Aha-Erlebnis“, erzählt er, „war das Spittelwasser in Jeßnitz.“ Erschrocken sei er gewesen und entsetzt, wie die Chemie da strömte. Ungebremst und unbehandelt in die Mulde - so viel wie eine Stadt mit 1,2 Millionen Einwohnern abgibt. Täglich.
Jane Fonda hat geweint
In Holzweißig steht in den 80er Jahren immer öfter das Betriebsauto vorm Haus, wenn Walter Schliephake Bereitschaft hat. Eine gerissene Chlorleitung, ein Phosphorausbruch - Instandhalter sind die Feuerwehr. Der Mann, der mit 79 Jahren fit und irgendwie jung geblieben ist, lacht. „Das war ein verrücktes Leben.“ Seine Frau schüttelt den Kopf. Geschichten von solchen gefährlichen Aktionen will sie nicht mehr hören. Auch das immer wieder erlebte Entsetzen, in der dreckigsten Stadt Europas gelebt zu haben, kann sie nicht mehr ertragen. Von überall her sind sie damals gekommen zum Schwatz am Silbersee und haben geguckt und Jane Fonda hat geweint.
Schwarzer Staub an den Fenstern
„Das war eben so“, sagt Helga Schliephake. Und meint, dass hier immer auch Heimat gewesen ist. Wie die anderen Frauen im Dorf hat sie den schwarzen Staub, der von der Brikettfabrik kam, von den Fensterbrettern ihres Hauses gewischt. Und wie die anderen hat wohl auch sie im Urlaub in Mecklenburg gesehen, dass die Sonne dort ein bisschen heller scheint. Doch die Koffer packen? „Nein!“
Unglaublicher Wandel
Dieser Gedanke hat sich eh erledigt. Nicht wegen des Alters, wegen des unglaublichen Wandels, der hier vor sich ging. Den freilich haben Tausende mit ihrem Job bezahlt. Jetzt steht die Region für eine moderne, sichere Chemie. Die alte Hölle ist weg. Doch ein Teil ihres Erbes ist noch da. Verseuchtes Grundwasser zum Beispiel. Rund 500 Jahre wird es dauern, bis das sauber ist. Auch der Bergbau hat Spuren hinterlassen. Indes: Bitterfeld-Wolfen ist der einzige Ort zwischen Ahlbeck und Zugspitze mit einem Stadtsicherungskonzept. Weit mehr als ein Viertel des Geldes, das Sachsen-Anhalt zur Beseitigung der Altlasten ausgibt, fließt in die Region. „Irre viel“, sagt Walkow. 2013 rund 22 Millionen.
Wo früher der Wind Kohledreck vor sich her trieb, ist heute eine neue Landschaft. Gern, sagt Fred Walkow, würde er mit dem Boot von Altjeßnitz aus in die Mulde stechen. Doch: verboten. Wegen der einmaligen Natur. Sicher ist sicher. (mz)
