100 Tage nach Deichbruch 100 Tage nach Deichbruch: In Fischbeck ist fast nichts normal

Fischbeck - Von den Fischen, die über die Straßen schwammen und in den Häusern, erzählen sie noch heute in Fischbeck. Neben dem täglichen Kampf brauchen sie auch etwas zum Schmunzeln und Wundern. Bis zu zwei Meter hoch stand das Elbewasser in dem kleinen Ort im Elbe-Havel-Winkel. Während viele um ihre Deiche bangten und verschont blieben, brach vor 100 Tagen der Damm bei Fischbeck. Er ließ sich nur verschließen mit drei spektakulär gesprengten Lastkähnen.
Weit entfernt von einem normalen Leben
Wer heute durch das Dorf fährt, denkt, die Welt sei wieder in Ordnung. Das Wasser ist weg, auch der Gestank von den Tierkadavern. Es sind schon wieder Blumen und Sträucher gepflanzt. Aber das Bild trügt. Die Fischbecker sind weit entfernt von einem normalen Leben.
„Kommen Sie rein, sehen Sie sich alles an.“ In Gummistiefeln und Fleecejacke lässt die 73-jährige Karin Standke den Besuch in ihr Haus. Gleich hinter der Haustür führt der erste Schritt durch Sand, drei Holzbretter ebnen den Weg. Die Wände bestehen aus blanken roten Ziegeln, es folgt nackter Betonfußboden. Einen Meter hoch stand das Wasser hier. Das Haus ist komplett entkernt. „Mit dem Trocknen bin ich schon fertig“, sagt die Seniorin. Zehn Trockengeräte liefen sechs Wochen lang Tag und Nacht.
Warum die Alleinstehende im Alter von 73 das Haus wieder aufbaut und sich nicht einfach eine Wohnung nimmt? „Das hier ist mein Geburtsort. Niemand hätte dieses Haus gekauft, es wäre eine Ruine geworden.“ Sie konnte nicht anders. Karin Standke übernachtet in einer Pension im nahen Jerichow. Hier im Haus hat sie keinen Strom, kein warmes Wasser.
Wie Karin Standke, die ehemalige Bankangestellte, wollen die meisten der gut 400 Fischbecker ihre Häuser wieder aufbauen, sagt der ehrenamtliche Bürgermeister Bodo Ladwig. Ja, vereinzelt stünden Häuser zum Verkauf, einige Familien ziehen weg. „Der überwiegende Teil will aber zurück nach Fischbeck.“
Zwölf Häuser abgerissen
Zwölf Häuser in Wust-Fischbeck müssen abgerissen werden, sagt Ladwig. Allein an den kommunalen Straßen entstand ein Schaden von 3,7 Millionen Euro, dazu 2,6 Millionen Euro Schaden an kommunalen Einrichtungen wie Sportplatz, Spielplatz und Bürgerhaus. Fast alle Häuser sind vom Hochwasser betroffen, nur rund um die Kirche - die liegt etwas höher - sind ein paar verschont geblieben.
Telefonklingeln. Eine Frau fragt nach der Spendenbescheinigung für ihre 1000 Euro und fragt, wie es so läuft in Fischbeck. Der Bürgermeister sagt: „Es geht in kleinen Schritten vorwärts. Und so wird es auch bleiben.“ Er legt rasch auf. „So geht das hier den ganzen Tag“, sagt er dem Besuch. Ladwig, dessen Haus selbst unter Wasser stand, muss seit einigen Wochen wieder arbeiten gehen im örtlichen Milchviehbetrieb. Die ersten drei Monate nach der Flut war er freigestellt und war hauptamtlich Bürgermeister.
Die Fischbecker hätten vieles selbst in die Hand nehmen müssen, in der Katastrophenzeit und eigentlich bis heute. Bis jetzt wisse er von niemandem, der Geld aus dem 8-Milliarden-Euro-Hilfsfonds erhalten habe, den Bund und Länder aufgelegt haben.
Ladwig möchte unbedingt betonen, wie dankbar alle Fischbecker für die Spenden und die Arbeit der Helfer sind. Wenn rundum auch alle Dankeschön-Veranstaltungen für die Helfer organisieren: „Im Moment sind die Fischbecker emotional nicht in der Lage dazu, wir werden das im Frühjahr nachholen.“ Fast 400 000 Euro seien zusammengekommen und sehr viele Sachspenden. Im Flur des Bürgermeistersitzes stehen noch immer Kartons mit Shampoo, Spülmittel und Insektenmittel.
Immer wieder Spendenanträge
Immer wieder kommen Fischbecker, um Anträge auf Spenden abzugeben. Auch Pfarrer Christof Enders schaut herein, er ist Vorsitzender der Spendenkommission, die sich um eine gerechte Verteilung bemüht. „Alle sollen etwas aus dem Spendentopf bekommen“, sagt der Pfarrer und meint auch die, die versichert sind. Sein Ziel ist, dass allen Betroffenen ihr Schaden komplett ersetzt wird, aus welchem Topf auch immer. Inzwischen laufen die Vorbereitungen auf die kalte Jahreszeit. Die Gemeinde organisiert Ölradiatoren, die sie an die Betroffenen ausleihen will. Draußen ist es jetzt schon ungemütlich kühl.
Karin Standke bekundet Interesse an zwei Radiatoren. Bald muss sie aus der Pension in Jerichow raus, weil die Versicherung nicht länger zahlt. Dann, so hofft sie, ist schon ein Bad fertig und sie kann im ersten Stock schlafen. Sie hält einen Entwurf ihrer neuen Küche in den Händen. Vielleicht kommt die im Oktober, hofft die 73-Jährige. Wann sie wieder richtig in dem Haus leben kann? „Ich möchte gern Weihnachten drin sein.“
Dass hier niemand wohnen könne in dem Haus, merken die verspäteten Hochwassertouristen gar nicht. Immer wieder, vor allem an den Wochenenden, beobachte Karin Standke die Autos mit fremden Kennzeichen, die ganz langsam durch den Ort rollen. „Die werden alle denken, alles ist wieder in Ordnung.“ Von außen sieht es so aus, als würden die Gardinen gerade gewaschen. (dpa)