Von der Kaserne zur Fabrik Von der Kaserne zur Fabrik: Welche feinen Sachen einst in der Firma Gentsch entstanden

Zeitz - Achtlos begegnen die meisten Menschen dem grauen und schmucklosen „Kasten“, der ein tristes Dasein in der Schützenstraße neben der großen und zugewachsenen Baugrube der einstigen Piano-Union fristet. Dessen völlig ungeachtet steckt hinter den Mauern des leerstehenden Wohnhauses eine erzählenswerte Firmengeschichte.
Nämlich jener Firma auf dem Grundstück Schützenstraße 29/31, bei der auch Max Troeger (1863-1948), langjähriger Direktor der Kinderwagen- und Holzwarenfabrik E.A. Naether und Großvater des bekannten, 1928 in Zeitz geborenen Journalisten und Autors Peter Merseburger, einst sogar seine kaufmännische Lehre absolvierte.
Produzierte in Grana Tücher
Doch die Geschichte dieser Firma, die bekannt war für die Herstellung feiner Seidentücher, die so manches Frauenherz zu Weihnachten erfreut haben dürften, begann ganz in der Nähe von Zeitz. Johann Wilhelm Gentsch aus Crossen (Elster) ging als Posamentierermeister im frühen 19. Jahrhundert der Handweberei nach. Hergestellt wurden Pantoffel-Cords und andere diverse Stoffe für die Schuhbekleidung.
Sein Sohn Ludwig, der sich „Louis“ nannte, und wiederum auch dessen Sohn Eduard traten in die Fußstapfen ihres Ahnherrn und bauten den 1819 begründeten Gewerbebetrieb erfolgreich aus. Louis Gentsch siedelte zunächst ins Dorf Grana bei Zeitz über, wo er Schälchen und Tücher produzierte.
1870 erwarb er das große Suppe’sche Grundstück in der Schützenstraße 15 (29/31) mitsamt dem stattlichen Wohnhaus, das bis zu Beginn Deutsch-Französischen Krieges 1870 als Kaserne genutzt worden war.
Von der Kaserne zur Fabrik
Siebmachermeister Louis Suppe aus der Wendischen Straße, dem zugleich eine Ziegelei gehörte, hatte auf seinem Grundstück Schützenstraße Nr. 915 mit Unterstützung der Militärverwaltung das Gebäude in den Jahren 1860 und 1867 in zwei Bauabschnitten erbauen lassen. Die an das Haus Schützenstraße 27 angebaute Haushälfte mit der heutigen Hausnummer 29 entstand dabei als erste.
Für das angemietete Objekt wurde von der Militärbehörde ein Kastellan angestellt, der in der Kaserne lebte. Exerziert, geturnt oder das Bajonett geschwungen wurde auch auf dem Hof der Suppe´schen Kaserne, die seit 1867 zwei Kompanien des „Schleswig-Holsteinischen Füsilier-Regiments Nr. 86“, später Füsilier-Regiment „Königin“ aufnahm.
Auf Weltausstellungen in Wien und Sidney erlangten die Waren Weltruf
Neben der traditionellen Handweberei wurde am Standort in der damaligen Schützenstraße 15 von Fabrikbesitzer Louis Gentsch ab 1870 die industrielle Textilproduktion aufgenommen und eine moderne mechanische Weberei eingerichtet. Tücher aus Seide und Wolle wurden als Spezialität der Firma hergestellt, in der 1875 insgesamt 69 Beschäftigte angestellt waren und 48 Webstühle ratterten.
Hinzu kam, dass das Unternehmen seinen Absatz geschickt durch Patente abzusichern verstand. So wurde 1883 das von Gentsch entwickelte „Verfahren, um beliebige Muster von geschnittenem und gezogenem Plüsch reliefartig in Gazegrund einzuweben“ im Deutschen Reich patentiert. Bis 1884 hatte sich die Beschäftigungszahl auf 84 erhöht.
Auf den Weltausstellungen in Wien und Sidney erlangten die Waren Weltruf. Sie wurden sogar mit der „Goldenen Medaille für guten Geschmack“ prämiert. Der Export in aller Herren Länder florierte. Südamerika stellte sich dabei als besonders ergiebiger Absatzmarkt dar.
Fabrikgebäude erhielt die erste elektrische Lichtanlage in Zeitz
1885 erfuhr der florierende Betrieb eine bedeutende Erweiterung. Im Garten wurde für den Webereibetrieb ein beachtliches Fabrikgebäude in sogenannter Shed-Bauweise, das heißt mit mehreren aneinandergereihten Dachaufbauten errichtet, um der gestiegenen Produktionskapazität mit angemessenen Räumlichkeiten begegnen zu können.
Und mit noch einer weiteren Novität konnte die Firma Gentsch zu jener Zeit glänzen: Das Fabrikgebäude erhielt die erste elektrische Lichtanlage in Zeitz. Patriarch Louis Gentsch starb 81-jährig am 20. November 1892 in seiner Wohnung im Haus Schützenstraße 15. (mz)
