SED-Unrecht SED-Unrecht: Gegängelt, gekündigt, gebrochen

Zeitz/Bad Kösen - An einem Junitag vor 33 Jahren endet Georg Müllers altes Leben. Wie jeden Morgen kommt der Bad Kösener an diesem Freitag zur Arbeit. Der Familienvater ist einer von über 200 Mitarbeitern des volkseigenen Betriebs Rohrleitungs- und Industriemontagen Zeitz. Doch es sollte sein letzter Arbeitstag sein. Müller wird entlassen – fristlos – „wegen wiederholter schwerwiegender Verletzung der sozialistischen Arbeitsdisziplin“ und „grober Verletzung der staatsbürgerlichen Pflichten“.
Was war geschehen? Knapp eineinhalb Jahre zuvor war der langjährige Mitarbeiter des Betriebs nahe Weimar von Feuerwehrmännern als einziger Überlebender aus einem kopfüber in der Ilm liegenden Bus gezogen worden. Für den überzeugten Christ ist klar: „Gott hat seine schützende Hand über mich gehalten.“ Fast ein Jahr lang war er danach arbeitsunfähig. „Ich konnte anfangs kaum laufen“, erinnert sich der heute 73-Jährige.
Schließlich kehrt der gelernte Stahlbauer und Schweißer in seinen Zeitzer Betrieb zurück und bekommt die Stelle seines verstorbenen Kollegen. „Die war eigentlich nur Genossen vorbehalten.“ Auf der Baustelle war Georg Müller weit weg von seinem Betriebsdirektor gewesen. Nun sieht er ihn täglich. „Und ich hab ihm auch mal widersprochen.“
Wegen angeblicher Unpünktlichkeit fliegt der Bad Kösener fristlos aus seinem Zeitzer Betrieb
Was über 20 Jahre kein Problem war, wird plötzlich zum Kündigungsgrund. Man wirft Müller Unpünktlichkeit vor. Der Bad Kösener gehört zu einer Handvoll Mitarbeiter, die täglich nach Zeitz zur Arbeit pendeln. Weil die Zug- und Busverbindungen es nicht anders hergeben, kommen die Auswärtigen später zur Arbeit als ihre Zeitzer Kollegen. Es folgen Verweise und schließlich die fristlose Kündigung.
Für Müller ist klar: Der offizielle Grund ist ein Vorwand. Der Bad Kösener ist kein Parteimitglied, kein überzeugter Regimetreuer, ist praktizierendes Mitglied der evangelischen Kirche. Er verlässt an diesem Tag zum letzten Mal das Betriebsgelände. „Der Chef sagte, es sei eine politische Entscheidung“, erinnert er sich.
Christen in der DDR oft benachteiligt
Benachteiligung wegen ihrer Religionszugehörigkeit gehörte für Christen aller Konfessionen in der DDR zum Alltag, sagt Johannes Killyen. Das Thema spiele bis heute in seelsorgerischen Gesprächen eine Rolle, so der Sprecher der evangelischen Landeskirche Anhalts. Eine Entschädigung gibt es für Opfer von SED-Unrecht nur, wenn diese mindestens 180 Tage lang inhaftiert waren.
Laut aktuellstem Tätigkeitsbericht der Stasi-Landesbeauftragten betraf das Ende 2015 rund 7.000 Personen in Sachsen-Anhalt. Doch Repressalien im Beruf und politisch bedingte Chancenungleichheit der DDR-Zeit werden nur bedingt berücksichtigt.
Bis heute beschäftigen sich bundesweit zahlreiche Gerichte mit Einzelschicksalen der DDR-Unrechtsopfer, die Rehabilitierung oder Entschädigung verlangen.
Georg Müller kämpfte zwei Jahre gegen seine Kündigung - erfolglos.
Georg Müller legt Einspruch gegen seine Kündigung ein, spricht beim SED-Zentralkomitee vor, kämpft zwei Jahre lang vor Kreis- und Bezirksgericht – erfolglos. Müller ist in seiner Kaderakte als Ausgestoßener gebrannt und wird in der DDR nie wieder Arbeit finden.
Doch Arbeitslosigkeit existiert im Arbeiter- und Bauernstaat offiziell ebenso wenig wie staatliche Unterstützung für Beschäftigungslose. Der fehlende Lohn belastet die Familie mit zwei Kindern. Georg Müllers Ehe zerbricht. Er muss im Streit das Haus verlassen. Kommt in einer kleinen Wohnung unter und lebt fortan „in den Tag hinein“.
So erlebt er die Wende. Er erhält staatliche Stütze und Briefe von Sozial- und Arbeitsamt. Terminaufforderungen kommt er nicht nach. Er schämt sich und will den Kontakt mit alten Bekannten vermeiden. „Ich traf überall auf dieselben Leute, die dort schon früher gesessen hatten“, erinnert er sich.
Georg Müller fand nie wieder zurück ins Leben
Der Abstieg geht weiter. Georg Müller verliert alle staatlichen Zuwendungen und irgendwann auch seine Wohnung. Seine Ex-Frau Ruth Müller nimmt den nun 52-Jährigen wieder auf. „Er hat nie wieder zurück ins Leben gefunden“, sagt sie über ihn.
Zwei Jahre später, im Jahre 1997, bekommt Georg Müller einen schweren Schlaganfall. Von da an wohnt er in Pflegeeinrichtungen – seit nunmehr 20 Jahren. Eine politische Repressalie hat die Familie aus Sicht der beiden Ex-Ehepartner für immer zerbrochen. Auch sie versuchen, eine Entschädigung zu erstreiten.
Georg Müllers Ehefrau Ruth wird rastlos. Geht zu Kirche, kandidiert als Landrätin, spricht bei Ministerpräsident Reiner Haseloff vor, und gilt Beobachtern zunehmend als schwierige, geradezu besessene Person. Die 65-Jährige selbst fühlt sich ihrer Familie beraubt und tritt schließlich auch aus der ihr lange so wichtigen Kirche aus, weil sie sich nicht unterstützt fühlt.
Über 200 Burgenländer haben sich 2016 wegen SED-Unrecht beraten lassen
Die Landeskirche Anhalts setze sich bis heute für die Entschädigung von SED-Unrechtsopfern ein, so Johannes Killyen. Sachsen-Anhalts Stasi-Beauftragte, die ehemalige Pfarrerin Birgit Neumann-Becker, führt jedes Jahr zahlreiche Opferberatungen durch.
Der Bedarf bleibt hoch: Über 200 Burgenländer haben im vergangenen Jahr an insgesamt 15 Beratungstagen Hilfe gesucht. 128 allein an zwei Tagen in Zeitz – unter anderem am 40. Jahrestag der Selbstverbrennung des Pfarrers Oscar Brüsewitz vor der Michaeliskirche.
Rehabilitierungsanliegen wegen beruflicher Benachteiligung gehören zu den häufigsten Gründen für Beratungen, so Birgit Neumann-Becker auf MZ-Nachfrage. Ausgleichsleistungen seien in solchen Fällen prinzipiell denkbar, doch häufig bestehen „Nachweisprobleme“.
Das hat auch Georg Müller erfahren müssen: Als er seine Stasi-Akte einsehen wollte, fand sich keine. Ob sie zu den zahlreichen Papieren gehört, die in den Wochen nach dem Mauerfall auf Anweisung zerstört wurden, wird wohl immer unklar bleiben. (mz)