Mitgefühl in Wittenberg Wittenberg: Stadt trauert um Mike Wahl, den verunglückten Tätowierer

Wittenberg - Eine Familie trauert. Wie fühlt es sich an, wenn man dann plötzlich auch noch Stadtgespräch ist? Seit einer Woche ist der Unfalltod von Mike Wahl in Wittenberg und Umgebung in aller Munde, die sozialen Medien überschlagen sich.
Tausende Beileidskundgebungen, ein Meer von Blumen und Kerzen vor seinem Tattoostudio in der Lutherstraße, ein Trauermarsch, der am Freitagnachmittag den Verkehr lahmlegt.
Die Ermittlungen der Polizei zum Tod von Wahl laufen auf Hochtouren. „Gegen einen der Unfallbeteiligten ermitteln wir wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung“, erzählt ein Polizeisprecher.
Spuren werden von Experten begutachtet, Zeugen und Beschuldigte vernommen. Traurige Routine für die Polizei.
Außergewöhnlich ist aber das Echo, das der Unfalltod hervorgerufen hat. Der 45-Jährige war am Montag vor einer Woche mit seinem Motorrad auf der Belziger Chaussee verunglückt. Trotz schneller Hilfe und Hubschraubertransport in eine Spezialklinik in Halle schaffte er es nicht. 24 Stunden nach dem Knall werden die Maschinen abgestellt, die ihn am Leben erhalten.
Innerhalb weniger Minuten ist die Nachricht in den sozialen Medien verbreitet, SMS rauschen durch die Stadt, Anrufe: „Hast du schon gehört? Der Mike…“ - Das sind sie, die Minuten, in denen das Leben aus dem Takt gerät, die Zeit stehenbleibt und eine unsichtbare Faust in die Magengrube der engsten Angehörigen und Freunde schlägt. Christian Müller ist einer von ihnen. „Mike war mein bester Freund. Es gibt nichts, was wir nicht voneinander wussten“, erklärt er.
Er erzählt von Mike Wahl, als wäre der nur kurz weg, Zigaretten holen. Mikes Schwester Sandy Schrödter sitzt neben ihm auf dem Sofa im Garten, unter beider Sonnenbrillen sieht man die rotgeweinten Augen. Erinnerungen werden ausgetauscht.
„Weißt du noch? ,Mach dich mal locker!’ hat er immer gesagt“, erzählt Christian Müller. „Stimmt. Bei ’ner Tasse Kaffee und einer Zigarette“, stimmt sie zu. Beide müssen lachen. „Wir hatten gerade zu dritt ein Boot gekauft und wollten am Männertag damit fahren. Mike ist der Kapitän, wir besorgen noch eine Mütze für ihn.“
Plötzlich werden beide still. Das Leben schlägt einen linken Haken. Sie schildern einen sympathischen Kerl, lebensfroh, ein bisschen chaotisch. „Der hat gelebt. Was der in 45 Jahren erlebt hat, schaffen andere nicht in 100“, sagt Sandy. „Gegangen ist er mit einem großen Knall. Und wir sind noch mittendrin.“
Drei Töchter und ein Sohn trauern jetzt um den Vater. „Seine Kinder waren sein Leben. Dazu noch sein Motorrad und sein Hund. Dann war er glücklich.“ - „Er war ein herzensguter Mensch, hatte immer ein offenes Ohr. Der Stuhl beim Tätowierer war bei ihm auch so eine Art Psychologencouch“, sagt sein bester Freund.
Nach dem Unfall, nach der Todesnachricht sind Familie und enge Freunde von der Anteilnahme überfordert. „Mike hatte viele Bekannte, Kunden, Freunde. Es tut zwar gut zu sehen, dass er so vielen Menschen etwas bedeutet hat. Aber irgendwann ist auch mal gut. Ihm hätte das nicht gefallen, so in den Mittelpunkt gerückt zu werden“, erzählt seine Schwester.
Sein Bekanntenkreis war groß. „Er hat in Berlin, in Leipzig gearbeitet, hat junge Tätowierer ausgebildet. Einer ist von Frankfurt/Oder hergekommen, um Blumen abzulegen. Viele Grüße erreichen uns jetzt aus der Schweiz“, erzählt Sandy.
Am Freitagnachmittag hatten sich in den sozialen Medien rund 100 Menschen verabredet, vor dem Studio an den Verstorbenen zu erinnern. Im Anschluss marschierten 70 von ihnen zur Unfallstelle.
„Jetzt soll wohl ein zweiter Marsch geplant sein. Den Menschen, der das organisiert, kenne ich gar nicht. Und ich kenne seine engeren Freunde“, erzählt Christian Müller.
Er selbst hat eher praktische Hilfe für die Familie im Sinn. „Ich habe ein Spendenkonto eingerichtet, von dem die Beerdigung bezahlt werden soll. Dafür hat die Familie jetzt keinen Nerv, darum kann ich mich kümmern“, erzählt er.
„Einige Leute schulden ihm auch noch Geld. Das könnten sie auch dahin überweisen“, erzählt Christian Müller. Die Beerdigung soll im engsten Kreis stattfinden. Dann hört vielleicht auch der Knall für die Familie auf. (mz)