Verfahren Verfahren : Alkohol allein reicht nicht

Wittenberg - Was passiert, wenn ein Mensch sich nicht mehr zu helfen weiß? Diese Frage erreichte die Redaktion vor einigen Tagen. Eine Frau machte sich Sorgen um ihren Nachbarn. Der Mann sei offenkundig Alkoholiker, gebe ein trauriges Bild ab. Eine Gefahr sei er zwar nur für sich selbst - aber oft finde man ihn schwer lädiert im Treppenhaus. Angehörige gebe es nicht, schreibt die Leserin. Ab wann schreite der Staat ein und übernehme die Verantwortung für den Mann?
„Hilfe bekommt nur jemand, der sich auch helfen lassen will“, erklärt Jana Heinecke, Betreuungsrichterin am Amtsgericht Wittenberg. Das sei der wichtigste Grundsatz. Allerdings könne jedermann eine gesetzliche Betreuung anregen - etwa Pflegekräfte, Freunde oder auch Nachbarn. Rund 2200 Menschen im Landkreis Wittenberg werden bereits als Betreuungsfall geführt oder sind in der Prüfung, um einer zu werden.
Die Anregung bedeute dann aber noch lange nicht, dass jemandem auch ein gesetzlich bestellter Betreuer zur Seite gestellt wird. „Das ist lediglich der Startschuss dafür, dass wir uns mit dem Fall beschäftigen“, sagt Heinecke.
Der erste Schritt sei eine möglichst genaue Untersuchung. Die Betreuungsbehörde des Landkreises wird eingeschaltet. Die Mitarbeiter ermitteln den familiären Hintergrund, sprechen mit dem Umfeld des potenziellen Betreuungsfalls. Am Ende wird ein Sozialbericht erstellt, der abbildet, wie es um das soziale Netz des Betroffenen bestellt ist.
Eine Handvoll Gutachter
Erhärte sich der Verdacht, werde ein Gutachten von einem Facharzt für Psychiatrie angefordert. Im Landkreis gebe es eine Handvoll Gutachter, die dafür in Frage kämen, erzählt Heinecke. „Der Arzt untersucht, welche geistige, psychische oder körperliche Krankheit der Betroffene hat.“ Unter gesetzliche Betreuung könne nur gestellt werden, wer sowohl medizinisch als auch sozial deutliche Probleme habe.
„Alkoholismus alleine reicht beispielsweise nicht aus, um jemandem einen gesetzlichen Betreuer zur Seite zu stellen“, sagt Heinecke. Der Betroffene müsste schon sehr starke gesundheitliche Folgeschäden haben, um die Voraussetzungen dafür zu erfüllen. „Wenn jemand regelmäßig betrunken im Treppenhaus liegt, dann ist das noch kein Grund für uns, einzuschreiten. Schließlich kann derjenige - sobald er wieder nüchtern ist - theoretisch ganz normal seinen Tätigkeiten nachgehen“, sagt die Richterin. Schließlich gebe es die Freiheit zur Krankheit in Deutschland. Wer sich nicht behandeln lassen wolle, müsse das eben auch nicht tun.
Ein langwieriger Prozess
Erfüllt jemand aber die gesetzlichen Voraussetzungen, geht das Procedere weiter. Gesetzlich betreut werden oft geistig behinderte Menschen und Senioren, die nach einem Unfall oder einem medizinischen Notfall nicht mehr in ihr gewohntes Umfeld zurück können. Welche Aufgaben ein gerichtlich bestellter Betreuer übernimmt, richte sich nach dem Ausmaß der Erkrankung, erzählt Richterin Heinecke.
Geistig behinderte Menschen bräuchten etwa häufig Hilfe bei Behördengängen, Demenzerkrankte oder Schlaganfallpatienten einen Fürsprecher in medizinischen Fragen. Hinzu kämen dann oft noch Fälle, die der Vermögenssorge oder Hilfe in Sachen Wohnungsangelegenheiten bedürfen. Letzteres träfe oft auf Senioren zu, die nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr in ihre Wohnung zurück können.
Der Prozess, in dem das Ausmaß der Hilfsbedürftigkeit ermittelt wird, sei meist langwierig, sagt die Richterin. Drei bis sechs Monate dauere es in der Regel, bis die Betreuungsbehörde und der psychiatrische Gutachter ihre Einschätzungen abgegeben hätten. Im Notfall lasse sich dies aber beschleunigen - etwa, wenn jemand im Krankenhaus operiert werden müsse und selbst nicht darüber entscheiden kann oder im tiefsten Winter ohne Heizung dastehe. Da könne binnen 24 Stunden eine entsprechende Entscheidung vorliegen.
Den Abschluss des juristischen Weges zu einem Betreuungsfall markiert ein Hausbesuch. Eine Richterin oder ein Richter des Amtsgerichtes besuchen den Betroffenen. „Das ist wichtig, um sich ein Bild von den Lebensumständen desjenigen zu machen“, sagt Heinecke. Sie ist für das nicht gerade kleine Gebiet südlich der Elbe im Landkreis zuständig. Auch in Annaburg und Jessen ist sie unterwegs.
Gezwungen wird niemand. „Wenn jemand zwischendurch äußert, dass er keine gesetzliche Betreuung wünscht, dann kann das Verfahren auch schnell beendet sein“, sagt Heinecke. Das moderne Gesetz zur Betreuung gibt es seit 1992. Vorher bestand die Möglichkeit, dass der Staat die Vormundschaft für einen Erwachsenen übernahm. „Früher wurden die Menschen der staatlichen Willkür unterworfen. Sie wurden komplett entmündigt“, sagt Heinecke. „Es wurde auch gegen den Willen der Betroffenen entschieden. Das kommt heute so gut wie nicht mehr vor.“
Mit Vorsorgevollmacht
Wer im Fall der Fälle keine externe Hilfe in Anspruch nehmen will, das betont die Juristin, die sich seit fast 20 Jahren um Betreuungsfälle kümmert, der sei gut damit beraten, eine Vorsorgevollmacht zu erstellen. „Es besteht immer noch der Irrglaube, dass der Ehegatte oder die Kinder irgendwelche Entscheidungen für jemanden fällen können, wenn der diese selbst nicht mehr äußern kann“, sagt sie aus Erfahrung. Das könnten Familienangehörige aber nur, wenn sie dazu vom Betroffenen ausdrücklich berechtigt sind.
(mz)