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Stadt-Museum Wittenberg Stadt-Museum Wittenberg: Expedition in die Grauzone Riemer

Von Irina Steinmann 11.05.2019, 16:12
Ein Bildschirm informiert jetzt in der Riemer-Ausstellung.
Ein Bildschirm informiert jetzt in der Riemer-Ausstellung. Baumbach

Wittenberg - Wenige Tage nach Veröffentlichung eines MZ-Artikels über die Recherchen des Journalisten Mathias Tietke zum Leben des Sammlers und Museumsgründers Julius Riemer während der NS-Zeit hat die Stadt Wittenberg am Freitag darauf reagiert. Sie bot, wie es auffallend zurückhaltend hieß, dem Berliner Ethnologen Nils Seethaler ein Podium, erste Ergebnisse seiner Recherchen zu einer möglichen Verstrickung Riemers in die Diktatur vorzutragen.

Seethaler ist Mitglied im Freundeskreis Riemer-Sammlung und als solcher auch an der Entwicklung des Stadtmuseums beteiligt, deren Ausstellung „Riemers Welt“ seit Monaten in der Debatte steht.

Jenseits der Selbstdarstellung

Folgt man seinen Erkenntnissen, die auf Archiv-Recherchen fußen und die er nur ein „Schlaglicht“ nennt, lässt sich zusammenfassen: Es gibt zu Riemers umstrittener Rolle im „Dritten Reich“ - komplementär zu Tietkes negativen Funden und Schlussfolgerungen - auch entlastendes Material.

Und zwar abseits jener Selbstdarstellungen aus der Nachkriegszeit, auf die Riemer-Apologeten gern zurückgreifen, was Tietke zu Recht kritisiert. Seethaler sieht das ähnlich, wenn er derlei „wenig aussagekräftig“nennt.

Um die Rolle Riemers - der damals bekanntlich noch kein Wittenberger sondern Berliner war - während der NS-Zeit zu beleuchten, hat Seethaler sich bei seinen Recherchen unter anderem im Bundesarchiv - aus dem auch Tietke schöpft - auf die Frage konzentriert: „Wie standen die Nazis zu Riemer?“ Heraus kommt das Bild eines Mannes, der ihnen ein zumindest überaus suspekter Volksgenosse war.

Julius Riemer, entnimmt Seethaler einer Korrespondenz der zuständigen Gauleitung, sei vor der Machtübernahme „Demokrat“ gewesen - seinerzeit sicher ein schlimmes Schimpfwort - und er stehe der NS-Gedankenwelt „fremd und interesselos gegenüber“. Anders gesagt: Er gilt den Nazis als nicht zuverlässig. Neu ist die Existenz dieses Briefes vom 6. Dezember 1941 nicht. Bereits im ersten Anlauf der Stadt ab 2010, mit Hilfe des Potsdamer Historikers Enrico Heitzer Licht ins Dunkle an Riemers Leben zu bringen, spielte er eine Rolle.

Unter der Oberfläche

Für Seethaler ist dieses Dokument von 1941 so etwas wie der Ausgangspunkt, von dem er die Jahre zuvor und danach betrachtet. Riemer, der Laie, der gleichwohl Anlaufstelle für die unterschiedlichsten Wissenschaftler darstellt und zeitweise 20 einschlägigen Vereinigungen angehört. Darunter eben auch dem bereits viel zitierten Verband der Karst- und Höhlenforscher.

Die Höhlenforschung als Zeitzeugin, als Be- oder Entlastungszeugin für Riemer mag heute ein wenig speziell erscheinen, für die Nazis war das Unterirdische vor allem auch dies: kriegswichtig. Insofern ist es - für Tietke wie für Seethaler und vor allem für die öffentliche Bewertung Riemers - von Belang, ob Riemer seinen Kollegen und Vorgänger im Vorstand der Höhlenforscher, den getauften Juden Benno Wolf, beerbte oder beschützte.

Nils Seethaler jedenfalls präsentiert, neben Aussagen Riemers von 1937, in denen dieser auf das Unpolitische der Höhlenforschung pocht und sich über die Nazis lustig macht, auch NS-Schreiben von 1940, in denen Wolf und Riemer als „staatspolitisch unzuverlässig“ eingestuft würden. Riemers vermeintliche Nähe zu Göring wiederum sieht Seethaler „nach jetzigem Stand“ allein im gemeinsamen Interesse an der Wisent-Forschung begründet. Nach jetzigem Stand, wie gesagt.

Eine abschließende Bewertung kann und will Nils Seethaler mit seinen Recherchen nicht liefern. Es wird noch viele Expeditionen in die „Grauzone“ und damit verbunden „Überraschungen“ geben. Die Stadt Wittenberg sieht sich mit ihren Recherchen noch ganz am Anfang. Wie berichtet wird sie in diesem Jahr in die Provenienzforschung wieder einsteigen und dank erhoffter Fördermittel einen Wissenschaftler beauftragen. Andreas Wurda, Leiter der Städtischen Sammlungen und Museumschef, rechnet mit einem jahrelangen Prozess. Allein für den Fall des Sammlers Oskar Neumann, mit dem man beginnen will, würden zwei bis drei Jahre veranschlagt.

Dem Juden Neumann gelang 1942 die Flucht in die USA, möglicherweise mit Hilfe seines Vertrauten Riemer, so Seethaler. Julius Riemer wiederum erwarb Teile von dessen Sammlung. Zu welchen Preisen derlei Ankäufe stattfanden, wird Wurda zufolge ein zentraler Punkt der anstehenden Untersuchungen sein. (mz)