Schlosskirche in Wittenberg Schlosskirche in Wittenberg: Luthers neue Nachbarn

Wittenberg - Mit neuen Nachbarn ist das so eine Sache, man weiß selten, wer da kommt: lärmende oder ruhige, zugängliche oder verstockte? Kluge oder nicht? Querulanten oder Sympathieträger?
In Wittenberg hat jetzt Martin Luther neue Nachbarn bekommen. Sie sind klug, zugänglich, sympathisch, aufgeschlossen und logieren neben dem Schloss und darin, respektive im Evangelischen Predigerseminar, der Stiftung Christliche Kunst, im zentralen Besucherzentrum sowie demnächst in einer Reformationsgeschichtlichen Forschungsbibliothek.
Selbst gegen die manchmal etwas geräuschvolleren Bewohner der nahe gelegenen Jugendherberge dürfte Luther nichts einzuwenden haben, denn der Nachwuchs war ihm wichtig: „Bei der Jugend muss angefangen werden, wenn es im Staate besser werden soll.“ So hat er gesagt.
Zwar war Luthers Lebensmittelpunkt in Wittenberg das Lutherhaus und sein Hauptpredigtort die Stadtkirche. Aber an der Tür der Schlosskirche soll er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen die gängige Praxis des Ablasshandels veröffentlicht haben - die legendären Hammerschläge hallen bis heute nach. Zudem lebte im Schloss mit Friedrich dem Weisen ein Kurfürst, der zum wichtigen Schutzherrn für Luther wurde.
Nach dem Tod des Reformators 1546 brachte man dessen sterbliche Überreste in die Schlosskirche. So gesehen ist er, salopp formuliert, ein Anlieger der neuen Nachbarn.
Dass sich das Areal in einen ansehnlichen Ort verwandelte, hat ganz entschieden mit Luther zu tun. Ohne ihn, seine mutige Tat, die davon ausgehende Reformation (nicht nur der Kirche) und das Jubiläumsjahr 2017, wäre nie so viel Geld in die Umgestaltung geflossen. Nach etlichen Jahren der Renovierung und Sanierung (Kostenpunkt: gut 33 Millionen Euro) erwartet die Besucher ein architektonisches Kleinod - in der Gesamtbetrachtung.
Und im Detail Einrichtungen, wie es sie so nur dort gibt. Wer den Schlosshof von der Schlossstraße kommend betritt, dem fällt zunächst das Evangelische Predigerseminar auf. Vier ostdeutsche Landeskirchen lassen dort ihre angehenden Pfarrer ausbilden. Eigentlich hat das Seminar, das seit seiner Gründung im Jahr 1817 und bis 2012 am östlichen Ende der Altstadt, im Augusteum, untergebracht war, 50 Plätze pro Jahr.
Zuletzt waren es nach Auskunft von Seminardirektorin Hanna Kasparick jedoch zwischen 60 und 65. Wegen der ab 2018 erwarteten Ruhestandsversetzungen älterer Pfarrer wurden mehr Vikarinnen und Vikare ausgebildet, weshalb auch die Dozenten Verstärkung brauchten.
Mit dem Predigerseminar am Schloss entsteht ein Bildungsstandort, der zusammen mit den Nachbarn (dazu gehört auch die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt) „seinesgleichen sucht“ (Kasparick). An der Stelle des einstigen Südflügels ist ein Neubau unter anderem mit Wohnraum für die Vikare errichtet worden. Bei Ausgrabungen wurden die kurfürstliche Küche und Reste der noch von den Askaniern stammenden alten Umfassungsmauer freigelegt, sie sind teilweise in eine neu geschaffene Kapelle im Keller integriert.
So wurzelt die Einrichtung einerseits auch optisch in der Geschichte, andererseits geben große Glasfronten in der Fassade den Blick frei auf das Hier und Jetzt.
Dazu gehören kleine Patios, die auf dem benachbarten Schlossdach in unmittelbarer Nähe der künftigen Seminarräume entstanden sind. Noch sprießen in den Gärten Wildkräuter, ein Blühkonzept sieht jedoch die zeitnahe Bepflanzung vor. Mitte August soll Kasparick zufolge die Bauabnahme erfolgen. Was es jetzt schon gibt? Eine prima Sicht auf die Schlosskirche, in die Landschaft und zum Himmel.
Ausblicke, die auch Besucher eines Tages zu ausgewählten Anlässen genießen können, denn das Predigerseminar ist mit Veranstaltungsreihen wie den Sonntagsvorlesungen auch ein öffentlich zugänglicher Ort.
Das ist schon qua Name das zentrale Besucherzentrum. „Wenn es sich um den touristischen Bereich handelt, führt jeder Zutritt über das Besucherzentrum“, sagt der Kustos des Schlosskirchenensembles Jörg Bielig. Konkret heißt das, wer die Schlosskirche besuchen möchte, wird - außer zu Gottesdiensten - eines Tages nur noch durch den im Erdgeschoss des Schlosses befindlichen Raum dorthin gelangen.
Seit der Inbetriebnahme des Besucherzentrums Ende Oktober 2016 haben 280.000 Menschen die Kirche besucht, ein Drittel seien ausländische Gäste. Bielig lobt die verbesserten Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiterinnen im Besucherzentrum. Aber auch und vor allem die Gäste erwartet eine moderne und freundliche Umgebung, wenngleich deren barrierefreie Erreichbarkeit noch optimiert werden muss.
Ein weiterer neuer Nachbar wird die Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek. Seit 2016 hat sie mit dem Wissenschaftler Matthias Meinhardt einen Leiter, der im Hintergrund jede Menge zu tun hat. Die Bibliothek im ersten und zweiten Obergeschoss indes muss noch eingerichtet werden. Wenn alles vollendet ist, soll die Institution auf etwa 1.800 Quadratmetern 220.000 Titel beherbergen. Bestehen wird sie im wesentlichen aus den Bibliotheksbeständen des Predigerseminars und der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt.
Meinhardt und sein Team werden für die künftigen Nutzer aus der internationalen Forscher- und Wissenschaftswelt alles zusammenführen. Es soll auch einen öffentlichen Bereich mit Leseraum und Freihandbibliothek geben. Und weil man sich nicht als „Wissenschaftsraumschiff“ begreift, das über den Köpfen der Menschen schwebt, werden auch andere Angebote entwickelt.
Zudem soll es einen kulturhistorischen Rundgang geben, der durch den Südturm, in dem einst der Kurfürst seine Wohnräume hatte, führen soll. Zu Luthers Zeit war übrigens im Turm der Schlosskirche die kurfürstliche Bibliothek, die auch von der Universität genutzt wurde, untergebracht. So gesehen gibt es eine Traditionslinie. Bis zur Eröffnung der Forschungsbibliothek müsse nun vor allem das Raumklima kontrolliert werden, um zu sehen, „wie gut der Bau ausgetrocknet ist“.
Apropos: Ein Luftentfeuchter läuft beim Vor-Ort-Termin im Depot der Stiftung Christliche Kunst, dem vierten neuen Nachbarn im südlichen Teil des Schlosses. Wegen einer Sonderausstellung mit Leihgaben druckgrafischer und plastischer Arbeiten von Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, sind die stiftungseigenen Werke im Büro der Vorstandsvorsitzenden Jutta Brinkmann eingelagert.
Ins Schloss umgezogen ist man mit der Sammlung christlicher Kunst des 20. Jahrhunderts, deren Grundstock von dem Unternehmerehepaar Gisela und Ulrich Scheufelen aus Süddeutschland gelegt und 2001 nach Wittenberg gestiftet worden war, erst im Frühjahr. Brinkmann schätzt, dass Luther nichts gegen diese Kunst einzuwenden hätte. Auch andere neue Nachbarn sehen das für ihre Bereiche ähnlich.
Seminardirektorin Kasparick etwa ist sich sicher: „Luther würde sich freuen, dass die Ausbildung zum Pfarrdienst jetzt hier geschieht.“ Ansonsten gilt: „Reformation heißt nicht, da war mal was, sondern da ist etwas.“ (mz)