Rundgang über Friedhof Wittenberg Rundgang über Friedhof Wittenberg: Ein "lebendiges Museum"

Wittenberg - Friedhöfe haben ihren ganz eigenen Reiz. „Man kann hier die ganze Stadtgeschichte ablesen“, weiß Mario Titze. Was aber nur funktioniert, wenn auch ältere Grabanlagen erhalten bleiben, sehr viel ältere. Das Problem dabei ist, dass oft niemand mehr zuständig ist für Erhalt und Pflege, so der Referent des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie in Halle.
Denkmalschutz und Nutzung des Areals Friedhof unter einen Hut zu bringen, das ist hier alltäglich. „Man kann ja nicht für jede Bestattung eine denkmalrechtliche Genehmigung einholen“, sagt Titze. Er ist einer der vier Experten, die am Sonntag für die Öffentlichkeit einen Rundgang über den Wittenberger Friedhof an der Dresdener Straße gestalten.
Titze stellt in Kurzform die kulturgeschichtlichen Hintergründe vor, vom Gräberfeld rund um eine Kirche bis hin zu den Anlagen vor den Toren der Stadt, wie eben auch in Wittenberg, ab dem 16. Jahrhundert.
Neugier ist groß
Es ist eine Art Pilotveranstaltung der Arbeitsgruppe Friedhofsentwicklung mit der Stadt, zu der am Sonntag eingeladen ist. Statt der vorgesehenen 80 Leute sind auch keine 100 erschienen, mit denen die Organisatoren schon gerechnet haben. Rund 140 Neugierige haben sich eingefunden, was fast den Rahmen des Machbaren sprengt. Aufgeteilt auf vier Gruppen, innerhalb derer Maskenpflicht herrscht, werden vier Themen behandelt.
Es ist die Vielfalt, die beeindruckt. Neben Einzelgräbern gibt es Familienanlagen und Mausoleen. Neuzeit und Barock sind nicht weit voneinander entfernt. Mausoleen etwa, so Titze, seien eher in romanischen Ländern üblich. In Wittenberg waren es die begüterten Einwohner, die sich so etwas leisten konnten.
Allen alten Grabmalen gemein ist, dass an ihnen der Zahn der Zeit nagt - zuweilen auch Vandalen ihr Unwesen getrieben haben. Erforscht sei bisher nur das Mausoleum der Familie Jahn, erklärt Mario Titze. Es gebe eine Diplomarbeit.
Blick in Mausoleen
Ausgerechnet dieses Mausoleum, angelegt von einem Ehepaar, ist bei der Führung nicht zugänglich. Dafür dürfen die Teilnehmer einen Blick in die letzte Ruhestätte der Kaufmannsfamilie Lüdecke werfen, neben der aufwendigen Wandgestaltung bewegt die mit Balken gestützte, einsturzgefährdete Decke die Betrachter. „Das Mausoleum ist noch nicht datiert“, benennt die Kulturhistorikerin Insa Christiane Hennen eine der zahlreichen Wissenslücken. Bekannt sei, dass die Grabstelle 1888 gelöst worden sei.
Mehr bekannt ist dagegen über die Grabstelle des Postmeisters Johann Georg Zimmermann. Die Geschichte der hingerichteten Giftmörderin Susanne Zimmermann, die zuvor ihre Stiefkinder vergiftete, ist bekannt in der Stadt. Weniger bekannt ist hingegen, dass der Postkommissar in seinem Testament aus seinem großen Vermögen neben einer Stiftung für arme Bewohner auch einen Leichenstein für sich und seine vier ermordeten Kinder gesetzt haben wollte.
„Das hat 47 Jahre gedauert“, berichtet Andreas Wurda, Leiter der Städtischen Sammlungen, an dem aus Sandstein gestalteten Bildnis von Kronos neben einer Postmeilensäule an der Friedhofsmauer. Dabei sei dies nicht der ursprüngliche Entwurf gewesen, so Wurda, der die Akte gefunden und ausgewertet hat. „Das geistliche Konsistorium wollte einen einfachen Stein.“ Nach mehreren Entwürfen sei der jetzige Stein gearbeitet worden.
Der Vorteil der historischen Dokumente ist, dass die Zeichnungen bei der Restaurierung immens hilfreich sein werden. Denn Kronos hat einen Arm verloren, und auch andere Details fehlen inzwischen. Einen Fördermittelantrag habe die Stadt bereits gestellt, so Wurda.
Hier und an den anderen Stellen kommt zur Sprache, was die Initiatoren des Rundgangs bewegt. Für einen Erhalt der kulturhistorisch bedeutsamen Grabmale, ob Stein, Erbbegräbnis oder Mausoleum, bedarf es eines Konzeptes und Geldes. Was wird etwa mit den später restaurierten Mausoleen? Eine Info-Station für die Suche nach bestimmten Gräbern? Oder wird es eine Art Kolumbarium für Urnen?
Ungestörter Lebensraum
Friedhöfe sind, so Mario Titze, eine Art „lebendiges Museum“, das sich immer wieder verändert. Hennen nennt es eine Stadt für die Toten, mit Kirche, Häusern, Straßen und Grundstücken. Und natürlich Grünanlagen, welche die städtische Landschaftsplanerin Anett Paul gemeinsam mit dem Baumexperten Helmut Fanke den Besuchern erläutert. Zwar sei der Friedhof nicht in städtischer Verantwortung, ungeachtet dessen sei er wichtiger Lebensraum für Tiere und Pflanzen.
Es gibt Immergrüngehölze wie Efeu und Buchsbaum, Solitäre wie die mächtige Rotbuche und als Rarität den Zürgelbaum. „Große Bäume erhalten dem Friedhof die Grundstruktur“, weiß Fanke. Und was Esche und Birke betrifft - hängende Zweige seien eine Wuchsform. Der Vorsatz „Trauer-“ sei unangebracht.
Konzept entwickeln
Die Arbeitsgruppe Friedhofsentwicklung existiert seit 2019 und vereint Personen, Institutionen, Behörden und Kirchengemeinden. Ziel ist der Erhalt kulturhistorisch und denkmalpflegerisch wertvoller Grabanlagen in einem zu erarbeitenden Friedhofskonzept. Allein im Wittenberger Stadtgebiet gibt es über 30 Friedhöfe. Die Führung am Sonntag war als eine Art Pilotveranstaltung geplant, um Interesse zu wecken. Die Wittenberger Tourist-Information hat zudem vor, künftig ebenfalls Friedhofsführungen anzubieten. (mz)
