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Ruinen in Wittenberg Ruinen in Wittenberg: Vergessene Geschichte

Von Irina Steinmann 29.12.2015, 07:34
Markant aber ein Kostenfresser: Die Tage des Kesselhauses von Wikana sind gezählt.
Markant aber ein Kostenfresser: Die Tage des Kesselhauses von Wikana sind gezählt. Klitzsch Lizenz

Wittenberg - Nichts bleibt wie es war, das ist wahr, aber man darf das hin und wieder auch mal bedauern. Lang ist die Liste der Denkmale für die Lutherstadt Wittenberg, selbst der derzeitige Sitz der MZ-Redaktion, Collegienstraße 20, ist demnach ein verkapptes Denkmal, im Kern noch Renaissance, wenngleich überformt in Gründerzeiten. Aber das sieht kein Mensch, der nicht vom Fach wäre.

Der „Schweizer Garten“ war die Wittenberger Skandalimmobilie der 1990er Jahre. 1993 hatte eine Gruppe junger Leute das Haus Am Alten Bahnhof 32 besetzt. Menschen wohnten dort, ziemlich regelmäßig gab es auch Konzerte für die Öffentlichkeit. Der Besetzung folgte ein jahrelanges Hin und Her. Gerungen wurde um einen Mietvertrag, eine Nutzungsvereinbarung, eine Umsiedlung der Bewohner - und um eine Räumung. Anfang 1998 zog der verbliebene Rest der Besetzer schließlich aus. „Das Haus soll nach Auskunft von Oberbürgermeister Eckhard Naumann aber nicht lange leer stehen“, schrieb am 16. Januar 1998 die MZ.

Nicht zu übersehen sind unterdessen drei Gebäude, deren Schicksale unklar oder bereits negativ besiegelt sind: der Alte Bahnhof an der Straße gleichen Namens, der „Schweizer Garten“ nebenan und, als eines der prägnantesten Gebäude an der an Fabrikarchitektur ohnehin nicht armen Dessauer Straße, das Kesselhaus der Keksfabrik Wikana.
Dessen Tage sind nun unwiderruflich gezählt, nachdem Wikana nach jahrelangen Bemühungen nun seit 2014 die Abrissgenehmigung in Händen hält. Man habe vor, das Haus voraussichtlich im kommenden Jahr abzureißen, bestätigte Wikana-Geschäftsführerin Yvonne Böhme entsprechende Angaben der Stadt. „Das Kesselhaus soll im nächsten Jahr zurückgebaut werden“, hatte die Stadtverwaltung nach einem Firmenbesuch von Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos) Ende November auch im Amtsblatt mitgeteilt.

Um die Abrissgenehmigung hatte es über die Jahre einiges Hickhack gegeben, die Sache ging sogar vor Gericht. Erst recht nach „Kyrill“, der 2007 Schäden am Gebäude verursachte, sah sich das Unternehmen außerstande, weit über eine Million Euro in das alte Kesselhaus zu stecken. Diese Landmarke aus dunkelbraunen Backsteinen dürfte nun also bald verschwinden, ein genauer Termin steht Böhm zufolge allerdings noch nicht fest.

Dass es ein gewisser Verlust sein wird, dagegen schon: Als „herausragendes Zeugnis moderner Industriearchitektur“ bezeichnet Mario Titze das Gebäude 2014 in seinem „Nachruf“ auf das Kesselhaus von Wikana in einer Schriftenreihe des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass das Gebäude nicht auf die bekannten Hamburger Architekten-Brüder Gerson zurückgeht, sondern, wie auch Titze schreibt, von 1922 bis 1924 geplant wurde vom Berliner Architektenbüro Carl Witting & Georg Güldner und bis 1926 dann auch stand. Auftraggeber war seinerzeit die Wikana-Vorgängerin „Kant Chocoladenfabrik“.

Die Stadt Wittenberg erklärte jetzt auf MZ-Anfrage, sie bedauere den geplanten Abriss, habe aber Verständnis dafür: Der Sanierungsaufwand wäre einfach extrem hoch. „Diese Entscheidung muss man akzeptieren“, so Stadt-Sprecherin Karina Austermann.

Was die beiden desolaten Gebäude entlang der Straße Am Alten Bahnhof angeht, so ist die Stadt hier, formal, ebenfalls aus dem Schneider. Den Alten Bahnhof hat sie den Angaben zufolge bereits im November 2002 an einen Privatmann verkauft - nachdem sie ihn erst ein Jahr zuvor selbst erworben und für mehrere 100 000 Euro gegen einen weiteren Verfall gesichert hatte. An die große Glocke gehängt wurde der Wechsel seinerzeit nicht. Um die Jahrtausendwende hatten sich ehrgeizige Sanierungspläne für das „älteste erhaltene Empfangsgebäude Deutschlands“ (1841) zerschlagen.

Der etwas jüngere „Schweizer Garten“ (1898, mit Anbau von 1919) kam dann nach Auskunft der Stadtverwaltung 2006 unter den Hammer und befindet sich heute ebenfalls in Privatbesitz. Was die heutigen Eigentümer mit dem Alten Bahnhof bzw. dem benachbarten Schweizer Garten vorhaben, ist nicht bekannt. Gepflegt wirkt das unmittelbare Umfeld des Schweizer Gartens, Rasen und Sträucher und Einfassungen, da lässt sich der Eigentümer ganz offenkundig nichts nachsagen. Auf einem Podest direkt am Haus steht ein schwarzer Pickup. Wie im Dornröschenschlaf wirkt unterdessen das Gelände von Hausnummer 31 direkt links davon, das ist der Alte Bahnhof. Hin und wieder rast ein Auto über die sonst eher stille Straße mit zumeist Wohnhäusern.

Rechts neben dem Schweizer Garten ragt, in gelbem Klinker und mit verspielten Spitzen, ein weiteres Zeugnis von Industriearchitektur auf. Auch Nummer 33, eine Brauerei von 1902, ist ein Denkmal. Und noch zu haben, wie ein Plakat an der Fassade informiert. Von Wikana weht ein leichter Keksduft herüber. (mz)

Im Dornröschenschlaf befindet sich der Nachbar des Alten Bahnhofs: der Schweizer Garten.
Im Dornröschenschlaf befindet sich der Nachbar des Alten Bahnhofs: der Schweizer Garten.
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Im Dornröschenschlaf: der Alte Bahnhof.
Im Dornröschenschlaf: der Alte Bahnhof.
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