Landgericht Dessau Prozess Gerüstbauer Wittenberg: Nach vier Prozessen wird Angeklagter frei gesprochen
Wittenberg/Dessau - Wie viel darf es denn sein? Sechs Monate? Oder neun? Oder doch ein Freispruch? Vier Mal in fünf Jahren haben sich Gerichte mit einem Unfall auf der Baustelle am Wittenberger Weber-Haus beschäftigt – mit völlig unterschiedlichen Ergebnissen.
Fest steht: Am 9. Mai 2010 stürzte gegen 15 Uhr ein Bauarbeiter vom Gerüst am Weber-Haus. Der Mann verletzte sich schwer, musste auf der Intensivstation behandelt werden. Wieder halbwegs hergestellt, gab er zu Protokoll, dass unter ihm eine Bohle – Fachterminus: Belag – weggeklappt und er in die Tiefe gestürzt sei.
Die Staatsanwaltschaft schaltete sich ein und brachte den Unfall vor das Amtsgericht Wittenberg. Dort kam man zu dem Schluss: Das Gerüst sei nicht in Ordnung gewesen, G., der Gerüstbauer bekam sechs Monate auf Bewährung wegen fahrlässiger Körperverletzung.
Der Staatsanwaltschaft war das zu wenig, G. zu viel, beide Seiten brachten die Sache vor das Landgericht. Die Verhandlung dort nahm gelegentlich unfreiwillig kabarettistische Züge an. Zwei Welten prallten aufeinander: Die handfeste des Baumenschen G., der ungefragt ein Gerüst im Gericht aufbaute. Und die des Richters, gewohnt und gehalten, seine Schlüsse aus dem „Inbegriff der Hauptverhandlung“ zu ziehen, was gelegentlich eine gewisse Praxisferne bedingt. Richter fragen lieber, als – was möglich wäre – sich selbst vor Ort ein Bild zu machen.
G.’s Argument: Selbst falls, wie behauptet – die Unfallstelle wurde erst nach Tagen inspiziert – ein Querriegel gefehlt haben sollte, könne der Belag unmöglich verrutschen und aus dem Gerüst fallen. Der Bauarbeiter sei wahrscheinlich durch eine geöffnete Luke gestürzt. Dass die entgegen der Vorschrift oft genug nicht geschlossen werden, bestätigten mehre Zeugen. Am Ende erhöhte das Landgericht auf neun Monate mit Bewährung.
G.’s Anwalt ließ das Urteil in Naumburg der Revision unterziehen. Und dort kam man zu dem Schluss, dass die Beweise etwas dünn seien. Die Sache müsse in Dessau von einer anderen Kammer neu verhandelt werden.
Die neue Kammer indes war, zumindest was deren Vorsitzenden angeht, dieselbe wie im vorherigen Verfahren – im Laufe der Zeit hatten sich nämlich die Zuständigkeiten geändert. Ganz glücklich ist so eine Konstellation gewiss nicht, aber höchstrichterlich abgesegnet. Es gilt auch in diesem Fall das Prinzip des gesetzlichen Richters: Verhandelt wird vor der Kammer, die laut Geschäftsverteilungsplan zuständig ist.
Der neue, alte Richter erinnerte sich auch noch gut an das vorherige Verfahren – eben wegen der quasi-kabarettistischen Einlagen. Wieder wurden etliche Zeugen geladen, vor allem solche, die mit der Sicherheit auf der Baustelle zu tun hatten. Am Ende hatte das Gericht den Eindruck, dass am Weber-Haus das Thema Sicherheit „verteilt behandelt und oberflächlich durchgeführt“ wurde. „Es hat sich jeder auf jeden verlassen.“ Welcher Fehler dem Angeklagten vorzuwerfen sei, habe sich nicht klären lassen – Freispruch.
Für G. ist die Sache damit erledigt. Ob die Staatsanwaltschaft – sie hatte den Fortbestand des amtsgerichtlichen Urteils gefordert – die Sache auf sich beruhen lassen wird, entscheidet sich in den nächsten Tagen. Sie hat eine Woche Zeit, Revision einzulegen. (mz)