Lesung in Bad Schmiedeberg Lesung in Bad Schmiedeberg: Ein Zeitzeuge erzählt

bad schmiedeberg/MZ/mac - Die DDR ist weit weg, längst ein Stück Geschichte - zumindest für heutige Schüler. Dass sie für andere Generationen noch ausgesprochen relevant ist, machte den Nachgeborenen am Montag in Bad Schmiedeberg ein Mann klar, der den Sozialismus à la DDR intensiv erlebt hat - ein namhafter Autor, der seit zweieinhalb Jahren überdies Landesbeauftragter für die Hinterlassenschaften der Staatssicherheit in Sachsen ist: Lutz Rathenow.
Die Lesung und Diskussion mit Lutz Rathenow im Bad Schmiedeberger Hof fand unter dem Motto „Schule gegen Rassismus - Schule mit Courage“ statt. Die Sekundarschule Bad Schmiedeberg gehört der Initiative an. (mac)
Er bescherte den Neunt- und Zehntklässlern Geschichtsunterricht der spannenden Art - als Zeitzeuge, der heftig aneinandergeriet mit den damaligen Machthabern, der sein Studium nicht beenden durfte, mehrfach verhaftet wurde, Transportarbeiter war, aktiv in der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung und sich trotz Drangsalierung nicht zur Ausreise in den Westen drängen ließ. Rathenow berichtete von seiner Kindheit, die sich so gravierend unterscheidet von einer in aktuellen Zeiten. „Lyrik“, sagt er, „war eine normale Erscheinungsform für einen ambitionierten Menschen.“ Überhaupt habe Literatur fern von Smartphone und Tablet eine wichtige Rolle gespielt. Neben Rockmusik - und langen Haaren, für die man in den 1970er Jahren der Schule verwiesen werden konnte. Rathenow berichtete von Stones-Platten und Postern, die für Preise gehandelt wurden, die einem halben Monatsgehalt entsprachen: „Eine völlige Verschiebung der Werte.“ 1968, erinnert sich der Berliner mit Zweitwohnsitz in Dresden, habe der Schuldirektor auf ihn (lange Haare, grüner Parka) gewiesen und gesagt: „So sieht der Klassenfeind aus.“ Ein Schulkamerad sei verhaftet worden wegen eines Ansteckers: die tschechische Fahne mit Trauerflor. Kurz davor war der Prager Frühling mit Waffengewalt beendet worden. Auch über seine Zeit als Grenzsoldat sprach Rathenow, „absurd und zynisch“ nennt er sie. Für einen von einem Grenzposten erschossenen jungen Mann habe es fünf Tage Sonderurlaub, eine Geldprämie und die sofortige Versetzung gegeben.
Die Schmiedeberger Schüler tauten zunehmend auf und hatten plötzlich viele Fragen: Zum Beispiel ob auch Jugendliche als Stasispitzel fungierten? Rathenow: „Ab dem 13./14. Lebensjahr sind solche Anwerbeversuche bekannt.“ Und wie er selbst mit jenen umging, die ihn bespitzelt haben? In seinen rund 15 000 Seiten umfassenden Akten seien bis zu 100 Spitzel genannt, so Rathenow: „Mit einigen hatte ich Mitleid, anderen, vielleicht zehn Prozent, würde ich Boshaftigkeit unterstellen. Gespräche sind sehr schwierig. Die meisten sind mir aus dem Weg gegangen.“
Vehement verteidigt hat Rathenow einen weiter offensiven Umgang mit den Akten. Die werden, so seine Erfahrung, wichtiger. Er bekomme täglich drei- bis 30-seitige Briefe. Da gehe es um Renten, Rehabilitierung, das Gefühl, dass dem DDR-Unrecht das Unrecht mangelnder Aufarbeitung folgte. Rathenow: „Man muss wissen, was war, um die Mechanismen begreifen zu können.“