Historisches Gewand erhält Vorzug vor Hochzeitskleid
WITTENBERG/MZ. - Für das Paar erweist sich die bewusste Terminkoppelung als Glücksfall. Um die passende Hochzeitskleidung müssen sich beide keine Sorgen machen. Den Treueschwur werden sie in den neuen Gewändern der Botenläufer leisten. "Die Sachen gefallen mir gut. Sie sind sehr angenehm und passen zum Verein", sagt die Braut. Ein echter Botenläufer trägt die Gemeinschaft eben im Herzen und pfeift auf herkömmliche Konventionen. Die Kleidung ist der Mode der Berner Boten aus dem 16. Jahrhundert nachempfunden. Schwarze und weinrote Farben dominieren. Akzente werden bei den Herren zudem in Gelb gesetzt, beim Vorhemd oder den Blüten auf den Kniebundhosen. Auf dem rechten Ohr sitzt das federgeschmückte Barett. Die Frauen tragen passend dazu Rock und Überrock, Bluse und Weste sowie einen Haarreif.
Im Internet waren Norman Güldner und Olaf Kurzhals auf das Schweizer Vorbild gestoßen. Schon seit längerer Zeit hatten die Wittenberger nach historischen Beispielen für ein eigenes, frisches Äußeres gesucht, schließlich haben viele Gewänder der Botenläufer schon deutlich über zehn Jahre auf dem Buckel. Die Schweizer machten schließlich das Rennen. 23 Modelle hat der Wittenberger Trachtenverein innerhalb der letzten vier bis fünf Monate maßgenau geschneidert. Da es für die Frauen unter den Boten keine Vorlage gab, wurde improvisiert. Immerhin zwölf Läuferinnen ließen sich neu einkleiden. "Der Trachtenverein hat eine tolle Arbeit geleistet und ist uns preislich sehr entgegen gekommen. Jedes Vereinsmitglied hat sein Gewand selbst bezahlt", sagt Eckhard Moritz, Vereinsvorsitzender der Botenläufer. Zum großen Festumzug durch die historische Altstadt werden die Botenläufer Samstag ihr neues Erscheinungsbild erstmals der Öffentlichkeit präsentieren. Dass die Mehrzahl der 72 Mitstreiter indes auf die bisher bewährte Mode setzt, ist für Moritz kein Beinbruch: "Wir sind ja kein Fanfarenzug. Es darf bei uns durchaus schön bunt zugehen."
Anita Fabig, Vorsitzende des Trachtenvereins, ist mit dem Ergebnis zufrieden. "Ein Gewand schafft eine authentische Beziehung zur Vergangenheit. Man schlüpft quasi in die historische Figur hinein." Vier Wochen hätten die Frauen zudem unentgeltlich investiert, um den Kleidungsstücken durch liebevolle Accessoires den letzten Schliff zu verpassen. Anita Fabig spricht von einem kleinen Sponsoring, Eckhard Moritz von einer großen Unterstützung, "für die wir sehr dankbar sind".
Seit 1993 der Landkreis Wittenberg über eine groß angelegte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme 41 langzeitarbeitslose Frauen in Beschäftigung brachte, werden unter der Regie von Anita Fabig Gewänder geschneidert, die man tunlichst nicht als Kostüme bezeichnen sollte. Da versteht die Vorsitzende des 1995 gegründeten Vereins keinen Spaß. Etwa 3 000 Unikate haben die Mitgliederinnen genäht. Ein Großteil der Mitwirkenden aus dem Festumzug zu "Luthers Hochzeit" wurde vom Trachtenverein eingekleidet. "Ich würde jedes einzelne Gewand selbst im Schlaf erkennen", sagt die Vorsitzende und schwört auf die Qualität der Vereinswerkstatt. "Auch die ersten Modelle aus unserer Hand kann man heute noch tragen."
Sogar zur Hochzeit macht man im mittelalterlichen Look eine gute Figur, wie Heike Gliesche und Steffen Heinze Samstag beweisen wollen. Gegen Abend werden sie allerdings die Botenläufer-Identität mit der Gegenwart tauschen. Die Feier mit den Verwandten ist zu Hause ganz in zivil geplant.