Debatte um Denkmalschutz Hennen: Abriss des Wittenberger Direktorenhauses wäre ein Fehler
Die Kunsthistorikerin Insa Christiane Hennen schaltet sich in die Debatte um das unter Denkmalschutz stehende Direktorenhaus ein, das weichen soll. Was ihre Argumente sind.

Wittenberg/MZ. - Muss das so genannte Direktorenhaus am Lutherhaus weichen? Die Debatte wird kontrovers und emotional geführt. Auf ein Interview der MZ mit Stiftungschef Thomas T. Müller reagiert jetzt die Wittenbergerin Insa Christiane Hennen, freiberuflich tätig als Kunsthistorikerin in der Denkmalpflege. Sie war zwischen 1995 und 2003 bei der Stiftung Luthergedenkstätten beschäftigt, verantwortlich für Bauforschung und Denkmalpflege.
Mit Widerstand gerechnet
Hennen schreibt: Muss das Direktorenhaus weichen? Wenn es nach Thomas T. Müller geht, der damit die Pläne seines Vorgängers umsetzen würde, ja. Die energetische Sanierung des Lutherhauses macht den Abbruch notwendig. Ob dafür eine Genehmigung vorliegt – zuständig ist die Untere Denkmalschutzbehörde beim Landkreis –, geht aus dem Beitrag nicht hervor. Der Bauausschuss des Stadtrates entschied lediglich darüber, hinsichtlich eines Ersatzbaus und einer PV-Anlage von der Gestaltungssatzung der Stadt abweichen zu dürfen. Dabei wurde davon ausgegangen, dass der Abbruch des Denkmals genehmigt ist oder wird. Allein aus dem Umstand, dass die Stadtverwaltung diese Entscheidung in den nichtöffentlichen Teil der Bauausschusssitzung verlegte, ist zu schließen, dass mit Widerstand gerechnet wurde. Auch die Entscheidung über die Ausnahmegenehmigung für die abstruse Feuertreppe am Melanchthongymnasium fiel vor einigen Jahren im nichtöffentlichen Teil. Die Möglichkeit einer öffentlichen Diskussion über eine öffentliche Baumaßnahme aus öffentlichen Mitteln, hätte in beiden Fällen die Chance geboten, weitere Argumente auszutauschen und die demokratische Entscheidung solider zu legitimieren.
Den Abbruch des Direktorenhauses soll die energetische Sanierung des Lutherhauses rechtfertigen. Um das ehemalige Wohnhaus des Reformators, ein Gebäude mit fast ein Meter mächtigen Außenwänden, an heutige Klimastandards anzupassen, soll in dessen Bausubstanz massiv eingegriffen werden. Historische Fußbodenniveaus, die sich aus nachträglich eingebauten Kellern ergeben haben, sollen barrierefrei nivelliert werden. Man könnte stattdessen lokale Lösungen nutzen, z.B. Klimavitrinen für empfindliche Objekte. Die Lutherkanzel wird seit vielen Jahren so präsentiert. Oder diese Objekte würden gleich im seit 2015 voll klimatisierten Nordflügel des Augusteums ausgestellt. Jeder Eingriff in das an und für sich stabile Raumklima des Lutherhauses birgt zudem Risiken wie Schimmelbefall. Es könnte klüger sein, im Winter etwas weniger zu heizen und den in der Regel wenigen winterlichen Besuchern zuzumuten, ihre Mäntel anzubehalten, insgesamt etwas bescheidener heranzugehen. Überhaupt stellt sich angesichts dieses Vorhabens die Frage der Verhältnismäßigkeit und der viel beschworenen Nachhaltigkeit.

Am Lutherhaus wurde in den letzten Jahrzehnten schon viel zu viel herumgebaut: Für den massiven Treppenturm von 2002 musste Thulins Turmattrappe weichen, im Osten des Hofes wurde wenige Jahre später ein Pseudokreuzgangflügel als Eingangs- und Verbindungsgebäude errichtet, das nun offenbar schon wieder ausgedient hat. Der Energieeinsatz für den neuerlichen Umbau einschließlich Abbruch, Entsorgung und „Ersatzbau“ wird sich kaum bis zur nächsten Sanierungskampagne amortisieren und ist allein aus wirtschaftlichen Gründen zu hinterfragen.
Am schwersten wiegt aber, dass dieses Vorhaben eine wichtige Zeitschicht tilgen würde: die der Rezeption Luthers durch die Nationalsozialisten. Oskar Thulin, der 1930 als erster hauptamtlicher Direktor der Lutherhalle ins Amt kam und für den wenige Jahre später das Wohnhaus an das Lutherhaus angebaut wurde, bemühte sich von Anfang an (und bis in die 1960er Jahre) darum, den vermeintlich „lutherzeitlichen“ Originalzustand des ehemaligen Klostergebäudes wiederherzustellen. Ihm war dabei bewusst, dass dies insbesondere wegen der Umbauten unter Kurfürst August, die mit Grundrissänderungen und dem Bau des Treppenturms einhergingen, wie auch wegen der Ergebnisse der zweiten großen Umbauphase des 19. Jahrhunderts nicht möglich war: Was weg ist, ist weg.
Thulin, der 1933 und 1934 die Lutherfesttage konzipierte und damit der Inanspruchnahme Luthers durch die Nazis Vorschub leistete, störten diese Fakten nicht. Er erklärte kurzerhand den Treppenturm wie auch das 1565 datierte Gewölbe des sog. Refektoriums für „luther-zeitlich“, ließ den preußischen Quaderputz abklopfen, die von August Stüler entworfenen Wandgestaltungen übertünchen oder entfernen und beschwor bei Führungen und in Ausstellungen den Geist des Reformators, wobei auf dessen harmonisches Familienleben besonders abgehoben wurde: „Luther als Mensch“.
Jetzt, 2024, wieder die jüngeren Nutzungs- und Rezeptionsphasen des Ensembles als gegenüber der „Lutherzeit“ nachrangig und letztlich verzichtbar zu bezeichnen, kann kaum als Ausdruck eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Denkmalen der Reformationsgeschichte gelten. Die Lutherstätten in Wittenberg und Eisleben wurden gerade wegen ihrer Eigenschaft als Denkmale der reichen und widersprüchlichen Rezeptionsgeschichte Luthers in die Unesco-Welterbeliste eingetragen, nicht als authentische Zeugnisse der Zeit 1483 bis 1546 oder als Architekturen der Spätgotik oder frühen Renaissance von besonderem Rang. Dann wären weder das Eisleber Sterbehaus (Fake!) noch die Schlosskirche in Betracht gekommen und vielleicht nur das Melanchthonhaus übrig geblieben.
Das Direktorenhaus, das auf einem Entwurf Robert Hieckes (1876 – 1952) basiert, des obersten Denkmalpflegers im Deutschen Reich, ist hingegen ein ganz typisches Zeugnis des Heimatstils und als Dienstwohnung für einen Kulturvermittler wohl einzigartig – aber auch als Beispiel einer in gewisser Hinsicht zukunftsweisenden Distanzlosigkeit. Der Zwischenbau, der im Erdgeschoss die Garage für den Pkw des Museumsdirektors beinhaltete, ermöglichte oben den direkten Durchgang zum Lutherhaus. Dafür war die Westfassade des ehemaligen Klosters durchbrochen worden.
In seiner Hofansicht mit Rundbogenportal und gotischem Außenkamin imitierte das bieder wirkende Einfamilienhaus den Turm, in dem Thulin das „Turmerlebnis“ des Reformators verortete, was bereits um 1930 nicht beweisbar war und durch die Forschungen um 2000 widerlegt wurde. An der, Ende der 1990er Jahre, getroffenen Entscheidung, diesen merkwürdigen Bau zugunsten eines klimatisch geboten erscheinenden neuen Museumseingangs zu opfern, war die Verfasserin beteiligt. Vor gut 25 Jahren war auch mir die Tragweite nicht klar, weshalb ich mich danach intensiver mit der Rolle Thulins als „Denkmalpfleger in politischer Mission“ auseinandergesetzt habe.
Abbruch wäre ein Fehler
An der Stelle des Direktorenhauses nun einen imitierenden Ersatzbau zu errichten, erscheint im Kontext der skizzierten Zusammenhänge als eine ganz besondere Ironie der Geschichte, wenn nicht als makabrer Witz. Der Abbruch des Wohnhauses von Oskar Thulin wäre ein Fehler, aus denkmalpflegerischen Gründen, hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit, des Gebots der Ressourcenschonung und des Weges der Entscheidungsfindung.
Einmal in den letzten 20 Jahren wurde in Wittenberg eine weit gediehene Planung noch einmal überdacht und mit schließlich besserem Ergebnis umgesetzt. Als das Grab des Askaniers Rudolfs II., seiner Frau und seiner Tochter den Umbau der ehemaligen Franziskanerkirche „störte“, hielten die damals Verantwortlichen angesichts der zu Tage getretenen Historie inne und entschieden umzuplanen.