Heimatkalender 2021 Heimatkalender 2021: Verbriefte Emotionen in Wittenberg

Wittenberg - Kaum etwas ruft solche Emotionen hervor wie Briefe. Das betrifft oft den ursprünglichen Adressaten ebenso wie spätere Generationen. Was muss es für eine Familie bedeutet haben, den Brief eines Angehörigen lesen zu können, der 1943 wochenlang in der Ukraine umher irrte, um sein Bataillon wiederzufinden.
Oder aus den Zeilen einer Kollegin erfahren zu müssen, dass im Juli 1945 die eigene Wohnung in Abwesenheit zum Teil geplündert, dann anderen Flüchtlingen zugewiesen wurde und trotz allem wenigstens ein Teil der persönlichen habe gerettet wurde.
Dass Menschen dies heute nachempfinden können, ist Bernhard Gruhl zu verdanken. Er hat die Briefe im Nachlass einer Verwandten gefunden und für den Wittenberger Heimatkalender für das Jahr 2021 zur Verfügung gestellt. Wie jedes Jahr ist das Büchlein 144 Seiten stark, kostet sechs Euro und ist prall gefüllt mit Geschichten.
Zwölf Artikel sind es diesmal, über die Wittenberger Tuchmacher, das Ausflugslokal „Wiesenhof“ am Piesteritzer Elbufer, Einschulungen einst und heute sowie die Geschichte der Emigration von Chaim und Shoshana Heimann im Jahr 1933 von Piesteritz nach Palästina.
Mut und Zuversicht als Ziel
Mario Dittrich will, so seine Aussage im Vorwort, den Leserinnen und Lesern in diesen Zeiten „etwas Freude, Muße, Mut und Zuversicht“ bringen. Das dürfte ihm gelungen sein. Auch eine Vielfalt an Themen hat er dank der Autoren wieder erreicht. Die Artikel im neuen Kalender haben weniger den Stadtkern zum Inhalt, sie unterhalten vielmehr mit fesselnden Beiträgen und dem Blick über die alte Stadtgrenze und in andere Zeiten hinaus.
Richard Thomas etwa widmet sich ausführlich der 600-jährigen Geschichte des Dorfes Thießen. Die Feier war Ende April 2020 pandemiebedingt ausgefallen, nun ist die Geschichte des Ortes mit zahlreichen Fotos auf 30 Seiten im Heimatkalender nachzulesen. Neben der Historie, der Feuerwehr und militärischen Ereignissen in den Befreiungskriegen 1813 werden Flurnamen, Traditionen wie Fastnachten und exemplarisch einige Familien und das Handwerk vorgestellt.
Fortgesetzt wird von Peter Zollner die Aufarbeitung der Geschichte des Stickstoffwerkes Piesteritz. Der zweite Teil beinhaltet noch die Zeit des Zweiten Weltkriegs mit dem dunklen Kapitel der sogenannten „Ostarbeiter“, danach die Arbeit unter sowjetischer Kontrolle, die drohende Demontage sowie die Umwandlung in eine Sowjetische Aktien-Gesellschaft.
Ellen Lerche zeigt im dritten Teil der Wittenberger Theatergeschichten auf, wie sich Mediziner auf der hiesigen Bühne behaupteten. Und Manfred Richter macht faszinierende Details zur Geschichte der Grüntalmühle erlebbar. Gebaut als Mahlmühle, wurde sie 1919 ein Erholungsheim der Wittenberger Ortskrankenkasse.
Manche Anmerkung fehlt
Es ist der Mix aus Vermittlung von Wissen und Unterhaltung, der dem Heimatkalender eine feste Leserschar sichert. Zuweilen wären ergänzende Anmerkungen hilfreich. Mancher wird zum Beispiel nicht wissen, wo denn nun das Möbelwerk in Wittenberg stand, über dessen Geschichte und Produkte man hier einiges lesen kann.
Beim Lesen des Artikels von Andreas Wurda über die Wittenberger Forschungsgeschichte der Fossilien, der den Erkenntnisgewinn über die Vorzeit anschaulich werden lässt, kommt Bedauern auf, dass man die Schau im Wittenberger Zeughaus noch nicht gesehen hat.
Ja, auch ein Kalendarium beinhaltet das Buch, das für sechs Euro im Buchhandel zu haben ist. Diesmal wird es illustriert von Acryl-Malereien des Wittenberger Künstlers Thomas Schmid, der auch das Titelbild gestaltete. Egal, wie weit das Jahr vorangeschritten ist, außerhalb des Kalendariums ist der Inhalt zeitlos. (mz)