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Das schöne, böse Tier tanzt wieder

Von Irina Steinmann 03.08.2008, 16:58

Wittenberg/MZ. - Irgendwo kräht ein Hahn. Vor dem (ehemaligen) Kraftwerk ist ein Bierstand aufgebaut, obendrauf eine überdimensionale Flasche. Essensgerüche wabern aus einem großen weißen Zelt mit Stehtischchen auf rotem Teppichboden. Am Rand wartet eine Eisverkäuferin auf Kundschaft. Volksfestkulisse. Doch diese Normalität täuscht. Das schöne, böse Tier, es will wieder tanzen. Nach dem Riesenerfolg 2007 lässt die Gregor Seyffert Compagnie die "Industriekathedrale" des 2 000-Seelen-Ortes Vockerode mit ihrem "Marquis de Sade" erneut erbeben. 75 Prozent der Vorstellungen sind den Angaben zufolge bereits ausverkauft.

Man kommt anders heraus als man hineingegangen ist, hat eine Kollegin gesagt. Eine Warnung? "Bizarr" sei das Stück - und so toll, dass sie es sich unbedingt noch mal ansehen wolle, hat die Taxifahrerin angekündigt. Die Eisverkäuferin, ebenfalls aus Vockerode, war natürlich auch schon drin letztes Jahr. "Wunderbar" und "mitreißend" sei es gewesen. Man wird noch viele Menschen treffen in der bundesweiten Warteschlange des Eröffnungsabends, die sich als Wiederholungstäter outen. "Der Mensch ist ein schönes, böses Tier" (O-Ton Marquis de Sade) - was fasziniert an dem Franzosen aus dem revolutionären 18. Jahrhundert, den sich die Nachwelt handlich machte als den Hauptvertreter der (sexuellen) Quälerei, den Paten des Wortes Sadismus? Das ist er ja auch. Doch ebenso, nein, vielleicht noch mehr, ist er ein Kritiker der verlogenen, korrupten Macht.

Sadismus steckt angesichts der Sommerhitze fraglos im Aufstieg zum ersten Spielort. Über steile, zwielichtige Metalltreppen geht es hinauf bis weit über die Grenzen der eigenen Höhenangst. Und doch liegt die oberste Zuschauerebene noch ein gutes Stück unterhalb der Decke, von der sich der Tänzer Gregor Seyffert das erste Mal gegen 19.30 Uhr kopfüber herablassen wird, und noch zweimal an diesem Freitagabend. Hinter ihm tobt auf mehreren Ebenen gleichzeitig ein Gesellschafts-Inferno: oben ein durchgeknallter Papst, darunter mechanisch kopulierende Macht. Noch tiefer: zuckende Irre, das Volk. Ein atemberaubendes, ohrenbetäubendes Spiel beginnt. Es wird das Publikum an drei Spielorte bringen, durch das halbe Kraftwerk, das dank raffinierter Beleuchtung Teil des Gesamtkunstwerks wird, und, je nach Disposition, auch an die Grenzen der eigenen moralischen Gewissheit. Der Mensch ist ein schönes, böses Tier.

Wie im vergangenen Jahr wird die Aufführung ergänzt durch eine Ausstellung. "Wasteland vs. Marquis de Sade" heißt sie diesmal. Gezeigt werden großformatige Fotos von Michel Valentino aus Berlin. Valentino, Jahrgang 1972, versteht sich als gesellschaftskritischer Warner, wie er im Gespräch mit der MZ erklärt. Ein Pessimist sei er deshalb noch lange nicht, "ich bin eher positiv und optimistisch", findet Valentino. Seit er selbst Vater geworden ist, treibe ihn die Frage der Zukunft der Welt noch stärker um. Was wird aus der Umwelt? Was wird aus dem Denken der Menschen unter Dauerbeschuss von Werbung? Hat die gar das Zeug zu einer neuen "Religion"? Folgerichtig zeigen seine Bilder verstörende Wesen mit Gasmasken. Exklusiv für die Zuschauer des Eröffnungsabends hat sie Valentinos Geschäftspartner Beat Wittwer lebendig in Szene gesetzt: Hinter Glas gehen sie, nackt und schlangengleich, aufeinander zu, aufeinander los. "Oje, ach du Schande, der sieht ja ganz schön tot aus", seufzt es aus der vorbeischauenden Menge, bevor die sich die Treppe hinaufwälzt zum furiosen Finale. Dieses Publikum, sommerlich leicht gekleidet und zwischendurch immer mal wieder ein Witzchen auf den Lippen, könnte einem normaler nun nicht erscheinen. Durchschnittsbürger, sollte man meinen. Das kann man beruhigend finden. Oder beunruhigend. Der Mensch ist ein schönes, böses Tier.

"Marquis de Sade" im Kraftwerk Vockerode, bis 14. September, jeweils Fr, Sa und So. Karten unter Tel. 0 18 05 / 44 94 49, Theaterkasse Dessau, Tel. 03 40 / 25 11-333