Buch vorgestellt Buch vorgestellt: Paul Bosse wird von Stift geehrt

Wittenberg - „Unrecht muss ans Licht. Und die Wahrheit, so schmerzlich sie auch ist, muss gesagt werden.“ Für Wittenbergs Superintendent Christian Beuchel ist es keine Frage: Was Paul Bosse 1935, dem Chefarzt des Paul-Gerhardt-Stiftes, nach langjähriger Tätigkeit angetan wurde, war „durch Gesetz sanktioniertes Unrecht“.
Vier Jahre intensive Forschung
Der Aufarbeitung der Geschichte des traditionsreichen evangelischen Wittenberger Krankenhauses nachzugehen, hat die Paul-Gerhardt-Stiftung vor einigen Jahren den Historiker Helmut Bräutigam beauftragt. Vier Jahre, zwischen 2010 und 2014, hat Bräutigam intensiv in Archiven geforscht und Nachfahren der Beteiligten um Auskünfte gebeten.
Nun liegt das Ergebnis in Form eines Buches vor. Es heißt: „Heilen und Unheil - Zur Geschichte des Paul-Gerhardt-Stifts zwischen 1918 und 1945“.
„Im kollektiven Gedächtnis Wittenbergs haben sich zwei Linien herausgebildet, die die Umstände des Ausscheidens Bosses aus dem Paul-Gerhardt-Stift betrafen“, erläuterte der Autor am gestrigen Sonntag bei der Buchpräsentation.
Zum einen hieß es, dass berufliche Verfehlungen die Gründe für Bosses Entlassung gewesen seien. Zum anderen seien es die von den Nationalsozialisten verfemten Familienverhältnisse gewesen, da Bosses Ehefrau Käte auch jüdische Vorfahren hatte.
Es ist ein Zeitabschnitt von nicht einmal 30 Jahren, und doch wiegt gerade dieses Kapitel des Wittenberger Paul-Gerhardt-Stiftes schwer und unheilvoll in seiner Geschichte. Das Schicksal des langjährigen Chefarztes Paul Bosse steht im Zentrum des Buches „Heilen und Unheil“, Autor ist der Historiker Helmut Bräutigam.
Paul Bosse hatte das evangelische Krankenhaus zu einer modernen Klinik im eigentlichen Sinn gemacht, bis heute hat der Gründer der Bosse-Klinik (ab 1936) einen festen positiven Platz im Gedächtnis der Wittenberger Stadtgesellschaft. Verlegt hat das von der Paul-Gerhardt-Stiftung herausgegebene Buch der Wittenberger Mario Dittrich in seinem Drei Kastanien Verlag.
Das Buch „Heilen und Unheil“ (ISBN 978-3-942005-64-7) ist ab heute zum Preis von 19,80 Euro im Buchhandel erhältlich.
Beide Versionen diskutiert der Autor, letztlich benennt er eindeutig antisemitische Gründe für die Kündigung. Da spielte es auch keine Rolle, dass Paul Bosse nach dem Wasag-Unglück in Reinsdorf im Juni 1935 den Verletzten im Stift die bestmögliche Hilfe organisiert hatte.
Was, wie Bräutigam bemerkt, den NS-Größen zwar größten Respekt abnötigte. Bosse wandte sich sogar schriftlich an Propagandaminister Joseph Goebbels (der Brief ist erhalten), „eine Antwort ist nicht überliefert“, so der Autor. Er stellt die Frage, was passiert wäre, wenn Goebbels sich gnädig gezeigt hätte.
Dem allerdings hatte der Vorstand des Paul-Gerhardt-Stiftes vorgebaut. Er stellte nicht nur mit Fritz Korth einen neuen Chefarzt ein, es wurden auch eifrig „offizielle“ Gründe für den Rauswurf in die Öffentlichkeit gebracht.
Letztlich hat der Berliner Historiker Helmut Bräutigam, Leiter des Historischen Archivs des Evangelischen Johannesstifts, auch andere dunkle Stellen erhellt. Etwa das Thema Zwangssterilisierung von Männern. Knapp 300 Männer ereilte zwischen 1933 und 1945 in Wittenberg dieses Schicksal, „ohne dass sich bei den Ärzten oder der Schwesternschaft dagegen Protest geregt hätte“.
Als konfessionelles Krankenhaus wäre es dazu nicht verpflichtet gewesen, führte Helmut Bräutigam aus, „und man tat es doch“.
Der Autor macht in seinem Buch das schwierige Verhältnis zwischen Kirche, Krankenhausleitung und Chefarzt deutlich. Er stelle „keine umfassende und schon gar keine abschließende Betrachtung vor“, sagte er. Als Historiker habe er versucht, Vorgänge zu rekonstruieren - was im Übrigen auch der Leser kann, denn der Autor hat auf 130 Seiten eine Vielzahl von Dokumenten beigefügt.
Nach einem Gottesdienst und der Vorstellung des Buches wurde im Foyer des Paul Gerhardt Stiftes eine weiße Gedenktafel für Paul Bosse angebracht. „Es ist noch nicht das Original“, sagte Werner Weinholt, Stiftungsvorstand und Theologischer Direktor der Paul Gerhardt Diakonie. Dieses, geschaffen von dem Künstler Dieter Detzner, sei aus Porzellan. „Ein Material, das häufig in Krankenhäusern verwendet wird. Es steht zugleich für die Zerbrechlichkeit des Lebens.“
Zeichen der Erinnerung
Zwischen den Zeilen kreuzen Linien eine Fläche, grenzen ab, öffnen anderes. „Keine Geschichte ist endgültig abgeschlossen. Es bleibt immer ein Rest“, interpretiert dies Weinholt im Beisein von etwa 80 Gästen, darunter Mitglieder der Familie Bosse. Dass die Paul-Gerhardt-Stiftung Teile ihrer Geschichte aufarbeite, könne eine präventive Wirkung haben, sagte Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos).
„Am 16. Dezember hat die Stadt Wittenberg einen Ort der Erinnerung an die Familie Bosse geschaffen“, erinnerte er an die Umbenennung einer Straße. „Heute schenken wir der Stadtgesellschaft und der Familie ein Zeichen der Erinnerung.“ (mz)