Bahnhof in alter Schönheit
Wittenberg/MZ. - "Das hier", tippelt Helmut Gründer, imaginär aus Richtung Pratau kommend, mit den Fingern zwischen den Gleisen entlang, "war mein Schulweg. Dreieinhalb Kilometer waren das." Gründer entstammt einer Eisenbahner-Dynastie, "Großvater, Vater, Mutter, zwei Brüder - alle waren sie bei der Bahn". Das Bahnwärterhaus 106 zwischen Pratau und Bergwitz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg das Zuhause der Flüchtlingsfamilie.
Helmut Gründer war damals gerade vier Jahre alt, aber dass auch er Eisenbahner werden würde, daran gab es keinen Zweifel. Vom Gleisbauer hat er es über die Stationen Fahrkartenschalter - Stellwerk - Schlosserei - Heizer - bis zum Lok-Führer gebracht. Ein Unfall setzte dieser Karriere ein Ende, aber der Eisenbahn wird Gründer sein Leben lang treu bleiben. In der Bergwitzer Schule hat er bis zur Wende eine Arbeitsgemeinschaft "Junge Eisenbahner" geleitet, in einem ausgedienten Triebwagen, "der fährt heute wieder für die Dessau-Wörlitzer Eisenbahn". Und Anfang der 1960er Jahre hat er auch sein Herz für die Modellbahn entdeckt.
Schon bei den Bahn-Aktionstagen vor einem Jahr erzählte Gründer der MZ, dass sie in der Modellbahngruppe des Fördervereins Berlin-Anhaltische Eisenbahn begonnen hätten, den Bergwitzer Bahnhof nachzubauen. Nun ist das Werk vollendet: Gezeigt wird der Bahnhofsbereich im Zustand um 1950, als die Post, die heute auch keine Post mehr ist, noch Kolonialwarenladen war. In alter Schönheit - das darf man mit Fug und Recht hinzufügen. Denn so zerschlagen und beschmiert, wie sich der Haltepunkt Bergwitz heute präsentiert, da blutet Gründer und seinen Mitstreitern im Verein das Herz. "Es ist eine Schande", sagen sie unisono.
Neben Gründers Ortskenntnis sowie der Unterstützung des Ortschronisten Günter Böhme aus Kemberg und des inzwischen verstorbenen Bergwitzers Joachim Jilo, waren hauptsächlich historische Fotos sowie die im Landesarchiv Merseburg lagernden Pläne der Deutschen Reichsbahn Grundlagen für das Modell im Maßstab 1:120. Es ist kompatibel mit dem Modell des einstigen Kemberger Bahnhofs, das die Modellbahngruppe 2003 anlässlich des 100. Jahrestages der Inbetriebnahme der Strecke Bergwitz-Kemberg der Stadt Kemberg geschenkt hat und das im dortigen Rathaus aufgestellt wird. Das Bergwitzer Diorama wiederum soll noch ergänzt werden mit den Modellen vom Haltepunkt Reuden und Teilen der Grubenbahn zur Brikettfabrik Bergwitz, so dass am Ende die gesamte Strecke en miniature zu sehen sein soll. Dass sie indes an den Bahn-Aktionstagen etwas versteckt in ihrem Keller des Sozialgebäudes vom Bahnbetriebswerk residieren, während draußen der Bär steppt, das stört die Modellbauer nicht. "Wir kennen doch das alles", sagen sie. "Und wenn es draußen regnet, wird es hier auch ganz schnell voll." Dass wahre Eisenbahnfans wetterfest und die Wittenberger Bahnaktionstage ohnehin wegen der Vielfalt der Angebote beliebt sind, weiß Michael Jungfer, Vorsitzender des Fördervereins und Chef-Organisator, aus der Erfahrung. Und so richtet er sich auf erneut großen Ansturm ein. Dazu gehört es, schon eineinhalb Stunden vor der offiziellen Eröffnung, um 10.50 Uhr wird diesmal Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) erwartet, die Tore aufzusperren für die Fotografen, die einen von Besuchern unverstellten Blick auf die vor dem Lok-Schuppen zur Parade aufgestellten Eisenrösser haben wollen.
Kinder und ihre Väter zieht es vor allem zu den Gleisen, wo Fahrten auf Loks angeboten werden. Auch ein ICE wird wieder vor Ort sein. Mit den Bahn-Aktionstagen, sagt Jungfer, "wollen wir zum einen unsere Vereinsarbeit präsentieren. Wir wollen aber auch das Verkehrsmittel Bahn zeigen, den Besuchern Dinge eröffnen, die sonst nicht im Blick der Öffentlichkeit stehen". Die Deutsche Bahn AG ist seit Jahren schon Partner dieser Veranstaltung, ebenso wie die Freizeitgruppe des Bahn-Sozialwerkes. Denn letztlich sind die Bahn-Aktionstage auch ein beliebter Treffpunkt für aktive und ehemalige Eisenbahner. "Bei den Alten muss man da aufpassen", warnt Gründer schmunzelnd. "Die hauen gerne andern Leuten mit ihren Geschichten die Taschen voll!"