Wesen des Jahres 2021 Wesen des Jahres 2021 : Das ist doch kein Flugzeug-Unfall

Aschersleben - Wolfgang von Brackel konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Das Mitglied der Bryologisch-Lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa (kurz BLAM), die sich mit Flechten und Moosen befasst, hatte in der Zeitung einen Artikel entdeckt: Ein Mann hatte seltsame Flecken auf seiner Terrasse ausgemacht und die Schuld dafür auf Flugzeuge geschoben, die ihre Toiletten im Flug entleeren würden.
Eine Schweinerei, die sich durch den ganzen Ort ziehen würde. Doch von Brackel weiß, dass es sich bei den teilweise kreisrunden Flecken nicht wirklich um Exkremente handelte, sondern um die Flechte des Jahres 2021: die Gewöhnliche Mauerflechte. Die setzt sich nämlich am liebsten auf Steinplatten fest, auf Mauern, Asphalt, Zaunpfosten - und eben auch auf alten Terrassenplatten.
„Bei uns auf der Burg kommt diese Gewöhnliche Mauerflechte leider zu häufig vor“
„Flechten behandeln wir in der Ökologie. Meist als Beispiel für Anpassungen von Organismen in Extrembereichen“, sagt Michael Probst dann auch. Der Lehrer, der am Ascherslebener Gymnasium Stephaneum Biologie unterrichtet, weiß: „Bei uns auf der Burg kommt diese Gewöhnliche Mauerflechte leider zu häufig vor.“
Die idealen Lebensbedingungen für die Flechte entstünden nämlich durch die Mengen an Kalkstaub, verursacht durch die unbefestigten Straßen. In Aschersleben meist auf rauen Dachflächen zur Nordseite hin.
„Eigentlich setzen sich die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften für Moose und Flechten ja für den Naturschutz ein, in diesem Fall ist es sicher nicht notwendig“, glaubt Probst. Und tatsächlich: Die Mauerflechte - durch ihre großen Rosetten kaum mit einer anderen Art zu verwechseln - ist weit verbreitet und auch nicht vom Aussterben bedroht. Die BLAM hat sich für diese Art als Wesen des Jahres entschieden, weil sie ein gutes Beispiel für einen „Kulturfolger“ ist.
„Aber die Flechte kommt ja eher auf wenig betretenen Flächen vor“
Zum Glück ist die Flechte für das künstliche Gestein, auf dem sie sich gern ansiedelt, aber nicht gefährlich. Ganz im Gegensatz zu den Befürchtungen vieler Haus- und Garteneigentümer.
„Richtet sie Schaden an?“, fragt Wolfgang von Brackel deshalb. Und verneint. „Am Stein bestimmt nicht, hier wird schlimmstenfalls der oberste Millimeter leicht angegriffen, um der Flechte Halt zu geben.“ Und bei Regen könnte es ein wenig rutschiger sein. „Aber die Flechte kommt ja eher auf wenig betretenen Flächen vor.“
Die Biologen jedenfalls würden sich über die blassgrünen Rosetten freuen. „Hier wird aus der toten Oberfläche des Kunststeins eine biologisch aktive, die Sonnenlicht einfängt, Kohlendioxid bindet und Sauerstoff freisetzt.“ Den Titel für die Flechte des Jahres trägt das Exemplar deshalb zu Recht.
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Hering, Otter, Langhornbiene - die Wesen des Jahres 2021 werden in vielen Bereichen gekürt und sollen auf besonders schützenswerte Tiere und Pflanzen aufmerksam machen. Die MZ stellt sie vor.
Flechte des Jahres 2021 ist die Gewöhnliche Mauerflechte (Lecanora muralis). Flechten sind symbiotische Lebenspartnerschaften, die aus Pilzen und Grünalgen oder Cyanobakterien bestehen. Zusammen bilden sie ganz neue Eigenschaften heraus, die sie alleine nicht haben würden. Und auch das dann typische Aussehen. Im Falle der Gewöhnlichen Mauerflechte eine rosettenartige Form. Die wächst - wie die meisten Gesteinsflechten - äußerst langsam: nur ein bis drei Millimeter im Jahr.
Etwa 25.000 verschiedene Flechtenarten gibt es auf der Welt, in Mitteleuropa rund 2.000. Dass sie eine Sonderstellung haben, zeigt, dass sie in der biologischen Systematik den Pilzen zugeordnet werden. Dort nehmen sie als eigene Lebensform eine Sonderstellung ein. Sie sind keine Pflanzen. (mz)
