Bildungschwächen abbauenBildungschwächen abbauen: Für die Kinder nochmal die Schulbank drücken

Weissenfels - Sylvia Klehm zeigt die Bilder im Schulungsheft und Marion B. spricht die Worte, die sie aus den Silben zusammenfügt: Koch-löf-fel und Schnei-de-brett. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht preisgeben, weil sie Angst hat, dass sie ausgelacht wird. Und so taut die Frau von Anfang 30 in Gegenwart eines Fremden bei dem MZ-Besuch erst nach einiger Zeit auf.
Finanziert vom Europäischen Sozialfonds
Doch Marion B. macht Fortschritte: Sie hat bei Projektmitarbeiterin Sylvia Klehm in der Volkshochschule Einzelunterricht im Rahmen des Projekts „Grundbildung“. Dieses gibt es seit Anfang 2018, es soll Menschen helfen, die mit Lesen, Schreiben und Rechnen unvorstellbare Schwierigkeiten haben. Mit dem Programm soll den erwachsenen Schülern geholfen werden.
Rund 95 Menschen lernen derzeit in Naumburg, Osterfeld, Weißenfels und Zeitz, ein Großteil davon bei der Caritas. Finanziert wird das Projekt Grundbildung vom Europäischen Sozialfonds mit 80, vom Landkreis mit 20 Prozent. Darüber hinaus gibt es kostenpflichtige Angebote in der Volkshochschule in Naumburg und Weißenfels.
Ermutigung im Jobcenter
Doch wie kam es überhaupt dazu, dass Marion B. Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hat? Sie beendete die 9. Klasse, das anschließende Berufsvorbereitende Jahr aber schaffte sie nicht mehr. Ihr Sohn gab ihr nun den Anstoß etwas gegen ihr Bildungsdefizit zu tun. Dieser ist jetzt in der ersten Klasse und muss Gelerntes üben.
„Doch ich habe ihm zunächst kaum helfen können“, sagt die Mutter. Ihre Betreuerin beim Jobcenter habe sie deshalb ermutigt, im Projekt Grundbildung zu lernen. Die Betreuerin wusste um ihre Probleme und half etwa bei notwendigem Schreibkram. Der Anstoß war wichtig für Marion B. Sie wurde aktiv, „weil es meinem Sohn nicht so gehen sollte, wie mir“. Ihre Mutter habe ihr einst nicht helfen können.
Frustrierende Absagen
Marion B. selbst hatte die Pestalozzischule besucht und war dort neben anderen Kindern von der Lehrerin unterstützt worden. Standen Klassenarbeiten an, wurde vorher geübt. Aber ihre Schwächen beim Lesen, Schreiben und Rechnen blieben. „Hätte ich die gleiche Hilfe auch im Berufsvorbereitenden Jahr bekommen, hätte ich vielleicht eine Chance gehabt.“ Sie sagt das, obwohl sie weiß, dass ihr die Grundlagen fehlten.
Auf ihre Bewerbungen bekam sie später Absagen, Zusagen gab es nur bei Aushilfstätigkeiten oder Ein-Euro-Jobs. So hat sie bereits in einer Großbäckerei oder Wäscherei gearbeitet. „Das hat richtig Spaß gemacht“, sagt sie. Dann wurde ihr Sohn geboren, später gebar sie eine Tochter. Der Vater lebt getrennt von der Familie, kümmert sich aber um die Kinder und spielt mit ihnen. „Die Kinder sind mein Ein und Alles“, sagt Marion B. Sie betont deshalb, dass das Lernen zwar langsam vorwärtsgehe, aber es etwas bringt.
Schulbank für und mit den Kindern
Natürlich dürfe man nach einem halben Jahr keine Wunderdinge erwarten, doch aus dem Lesebuch ihres Erstklässlers kann sie schon vorlesen, mit dem Rechnen hapere es noch. Unterschwellig treibt sie nun auch die Angst an, dass sie es irgendwann nicht mehr schafft, wenn später die Anforderungen an ihre Kinder wachsen.
Wie geht Sylvia Klehm mit den Schicksalen um, die sie an der Volkshochschule erlebt? „Ich finde gut, wenn diese Menschen den Mut haben, etwas zu verändern.“ Diejenigen, die einmal diesen Weg beschritten haben, würden ihrer Erfahrung nach Kurse seltener abbrechen. „Sie sind und bleiben motiviert.“ Und die noch nicht soweit sind wie Marion B.?
Siebeneinhalb Millionen Menschen in Deutschland mit Bildungsschwächen
Laut der Pädagogin liegt die Verantwortung auch bei anderen: Lehrern, Bekannten, Freunden, Arbeitskollegen. Man könne Bildungsschwächen nicht ignorieren und sollte Wege zur Hilfe aufzeigen. Allerdings dauert das seine Zeit. Gut ist, dass es ein Grundbildungs-Projekt gebe, die Förderung läuft bis Ende 2020.
„Ich hoffe, es wird weitergeführt, weil es notwendig ist“, sagt Sylvia Klehm. Denn die Zahl von siebeneinhalb Millionen Menschen in Deutschland, die unzulänglich lesen und schreiben können, sei erschreckend. Prozentual heruntergerechnet seien es in Sachsen-Anhalt 20.0000 Menschen und im Burgenlandkreis 16.500.
Bei vielen ein Tabuthema
Sylvia Klehm selbst war bei der Musikschule beschäftigt, dann unterstütze sie die Integration von Flüchtlingen. Ende 2017 bewarb sie sich für das Projekt Grundbildung. Leider würden viele Menschen dieses Problem ignorieren, einfach nicht glauben wollen, dass Menschen Handicaps in der deutschen Sprache haben oder auch Mathematik. „Es ist leider weitgehend ein Tabuthema“, sagt die Projektmitarbeiterin.
Manche würden etwa in der Schule mit durchgeschleift. Und: Es sind nicht nur Lern- oder geistig Behinderte, die betroffen sind. Viele redeten sich bei der Bitte auf Ämtern, etwas zu lesen, damit heraus, dass sie die Brille vergessen hätten, um von ihren Problemen abzulenken. Sylvia Klehm: „Da müsste man schon aufmerken, weil was faul sein könnte.“
Mitarbeiter in Ämtern gefragt
Sylvia Klehm räumt ein, dass die Probleme für Außenstehende nicht einfach zu erkennen sind. Mitarbeiter des Jobcenters oder Familien-Coaches wären gefragt und könnten Tipps geben, wie man etwas ändern könne. Zum Beispiel wenn jemand seine Adresse nicht schreiben kann. Da sei es gut, wenn eine Frau wie Marion B. ihren Kindern helfen will, damit diese nicht in den gleichen Strudel geraten, wie die Mutter. Und man dürfe nicht zu hohe Erwartungen haben. Eines ist klar: „Wir brauchen mehr ehemalige Grundschullehrer für das Programm.“ Und Marion B.? Sie will weiter lernen, für sich und ihre Kinder und sagt: „Es macht Spaß. “
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