Offener Brief Was die Kommunen im Landkreis Harz jetzt vom Kanzler erwarten
„Es darf keine Tabus mehr geben“: Im Interview äußert sich der Vorsitzende des Kreisverbandes des Städte- und Gemeindebundes zum Schreiben – und wird dabei noch deutlicher.

Landkreis Harz/MZ - Die Städte und Gemeinden im Landkreis Harz haben einen offenen Brief an Kanzler Olaf Scholz (SPD) verfasst. In dem Schreiben, das am Mittwochmorgen veröffentlicht wurde, machen sie ohne Umschweife ihrem Ärger über die hohen Energiepreise und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit von Bürgern, Unternehmen und Kommunen Luft. Man befürchte eine Insolvenzwelle. „Wir sehen die Gefahr, dass tausende Menschen arbeitslos werden“, heißt es darin unter anderem. Unterzeichnet wurde der Brief von den Bürgermeistern und dem Landrat. Sie haben ganz klare Forderungen an die Politik in Bezug auf Energiekrise, Inflation und den Ukraine-Krieg, aber auch Vorschläge und schließen mit einer Mahnung: „Energiepreise können wehtun, dürfen aber nicht existenzvernichtend sein. Bewahren Sie den sozialen Frieden und schützen Sie die Bürger und unsere Unternehmen!“ Im Gespräch mit MZ-Redakteurin Susanne Thon äußert sich Marcus Weise (CDU), der Vorsitzende des Harzer Kreisverbandes des Städte- und Gemeindebundes und Bürgermeister von Harzgerode, zu den Hintergründen – und wird dabei noch deutlicher.
Herr Weise, was hat Sie und Ihre Kollegen veranlasst, das Schreiben jetzt - und auch in dieser Schärfe - zu formulieren?
Marcus Weise: Wir müssen uns öffentlich positionieren. Es ist wichtig, den Bürgern zu signalisieren, dass wir an ihrer Seite stehen, sie unterstützen. Uns ist bewusst, das unser Spielraum sehr begrenzt ist. Wir haben zwar kleine Stadtwerke, aber sind kein großer Energielieferant. Und wir sind auch nicht die, die in den Ukraine-Krieg eingreifen können. Aber wir sind Städte und Gemeinden, und hier leben die Menschen. Wir sind ihr Sprachrohr, und unsere Aufgabe ist es, die Probleme, die auf uns zukommen, klar zu artikulieren. Wir sehen, dass viele Menschen nicht nur Existenzsorgen haben, sondern nicht mehr in der Lage sind, die Energie zu bezahlen. Das wird zum einen zu Privatinsolvenzen führen, und zum anderen fühlen sich viele erniedrigt. Wenn ich daran denke, dass bei einem Rentner, der 45 Jahre oder länger in die Rentenversicherung eingezahlt hat, die Rente nicht mehr ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, und er dann auf Sozialhilfe angewiesen ist, dann ist das demütigend. Wir erkennen, dass die Belastungen, die mit den massiven Energiepreissteigerungen einhergehen, für viele Bürger, Unternehmen und Kommunen nicht lange tragbar sind. Und das ist meines Erachtens in Berlin nach wie vor nicht angekommen.
... obwohl die Leute auf die Straße gehen.
Dafür haben wir vollstes Verständnis. Die Stimmung in der Bevölkerung ist außerordentlich gereizt. Die Leute - und das ist nicht nur der rechte Mob, sondern das sind ganz normale Bürger - haben Angst um ihre Existenz und artikulieren ihre Meinung.
Sie sprachen von Problemen, die auf uns zukommen. Welche Befürchtungen haben Sie?
Wenn die Energiepreise voll durchschlagen, werden wir nicht mehr in der Lage sein, jede Turnhalle, jedes Hallenbad offenzuhalten. Aber es geht nicht nur um die Kommunen. Wir befürchten, dass sehr viele Menschen arbeitslos werden, dass Dienstleistungsangebote wegfallen, dass die kleinen Betriebe, die Einzelhändler, die ohnehin keine großen Einnahmen haben, das Ganze nicht mehr tragen können und schließen müssen, und sich damit das Geschäftssterben, das viele kleine Orte in den letzten Jahren und Jahrzehnten erlebt haben, noch weiter beschleunigt. Und es geht auch um Gastronomie und Hotellerie, die schon unter Corona massiv gelitten haben; da gibt es bereits Überlegungen, Gaststätten und Hotels über den Winter zuzumachen. Aktuell haben wir Energiepreise, die Existenzen zerstören, und das muss schnellstmöglich aufhören, ansonsten werden wir die Städte und Gemeinden bald nicht wiedererkennen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie und Ihre Kollegen, gegenzusteuern? Oder anders gefragt: Was fordern Sie konkret von der Regierung?
Es darf keine Tabus mehr geben. Wir fordern den Weiterbetrieb von Kohle- und Atomkraftwerken, um Zeit zu gewinnen, einen sofortigen und zeitlich befristeten Preisdeckel für Energie, Steuersenkungen auf Energie, die Abschaffung der Gasumlage, damit Energie bezahlbar bleibt. Den Leuten Geld zu geben, um etwas zu bezahlen, entfacht die Inflation ja nur noch mehr. Außerdem brauchen wir einen klaren Plan, wie die Energieversorgung in Deutschland umgestellt und die Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann.
Das heißt?
Wir müssen unabhängiger werden von Energielieferungen aus dem Ausland, nicht nur von Russland, sondern von allen. Denn das ist ein bisschen wie auf dem Spielplatz. Da gibt’s auch Schlägertypen, und wenn man mit dem einen spielt, will einem der andere eine reinhauen und umgekehrt. Und dazwischen ist Europa, ist Deutschland - wir werden da voll zermalmt. Wir müssen erneuerbare Energien ausbauen, die Themen Wind und Sonne, Wasserkraft, Wasserstoff, Biogas bedienen, aber die Planungsverfahren dafür dürfen nicht mehr jahrelang dauern, sonst werden wir das nicht schaffen.
Welche Rolle könnten denn aus Ihrer Sicht die Kommunen dabei einnehmen?
Wir sind der Meinung, dass Landkreise, Städte und Gemeinden mehr Planungsverantwortung haben sollten. Aktuell ist es so, dass wir kaum handlungsfähig sind, um uns und die Bürger mit Energie zu versorgen. All das wird zentral organisiert und gesteuert. Das Problem ist, dass wir gern etwas tun wollen und es schlicht und ergreifend nicht können.
Im Zusammenhang mit der Energiekrise sind auch immer wieder die Sanktionen gegen Russland ein Thema - wie stehen Sie dazu?
Wir erwarten ein anderes Agieren der Bundesregierung in vielerlei Hinsicht. In der Historie gibt es kein Beispiel, dass Sanktionen auch nur irgendetwas beendet haben. Sie gehen immer zu Lasten der einfachen Bevölkerung. Die Auswirkungen müssen die Menschen hier in Deutschland tragen. Wir sind die, die die Zeche zahlen, nicht Russland. Wir erwarten auch, dass in diesem Konflikt mal über Frieden geredet wird. Deutschland würde so seiner historischen Verantwortung aus zwei Weltkriegen nachkommen. Es kann nicht der richtige Weg sein, Waffen zu liefern, durch die Menschen sterben. Vielmehr sollten wir dafür sorgen, das Ganze zu befrieden, versuchen mit allen Akteuren in Gespräche zu kommen, zu vermitteln. Auch wenn es viele gibt, die Interesse daran haben, dass das weitergeht, weil sie damit Geld verdienen.