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Pendler zwischen den zwei Welten

Von Christopher Hanisch 07.11.2005, 20:47

Neinstedt/MZ. - Die Erwachsenen gingenganz normal ihrer Arbeit nach und die Kindergenossen ihre Schulpausen an der frischenLuft.

1992, gut sechs Jahre nach der Katastrophe,starten sieben Hilfstransporter aus dem KreisQuedlinburg mit dem Ziel Weißrussland. IhrAuftrag: Medizin für ein Krankenhaus in dieStadt Ivje bringen. Ihr Auftraggeber: ReinhardSchulz. Rund 1250 Kilometer Fahrt ohne Pauseund 28 Stunden hinter dem Lenkrad, dann kommendie Transporter endlich in Ivje an.

Die kleine Kreisstadt liegt in Weißrussland,400 Kilometer entfernt von der Ukraine unddem Unglücksreaktor in Tschernobyl. Es istgenau das Gebiet, in dem nach der ExplosionUnmengen radioaktiver Niederschläge niedergingen."Ich kann an Leid nicht vorbeigehen. Da mussich einfach helfen. Das ist meine Visitenkarte",sagt der heute 51-Jährige Reinhard Schulzüber sich selbst. Als 1991 der allgemeineAufruf von der Landesregierung Sachsen-Anhaltkam, Menschen in Osteuropa zu helfen, wardas die Geburtsstunde des Vereins "Kindervon Tschernobyl - Medizinische Hilfe für Ivje/Weißrussland".Reinhard Schulz machte sich an die Arbeit.Am Anfang der Aktion stand eine Menge Papierkram."Ich schrieb Pharma-Firmen an, bettelte umMedikamente und beantragte bei den Behördenalle notwendigen Genehmigungen. Dann fuhrich nach Ivje, um mir ein Bild von der Lagezu machen." Es funktionierte. Die Hilfsbereitschaftwar enorm. Sachspenden, medizinisches Gerätund teure Medikamente. Die sieben Transporterwaren bis unters Dach vollgepackt.

Reinhard Schulz ist gelernter Maler und hatlange Jahre bei der Reichsbahn gearbeitet.1988 wurde er in die Neinstedter Anstaltenstrafversetzt. "Ich hab wohl manchmal zu offenmeine Meinung gesagt." Doch letztendlich wardie Arbeit in den Anstalten ein glücklicherUmstand für das Engagement in "Ivje". Dennhier gab es Unterstützung. "Irgendwann ineiner Pause kam Reinhard zu mir und fragte,ob ich nicht mal helfen könnte, einen Hilfstransportzu packen." Wolfgang Villbrandt erinnert sichnoch heute gern an diesen Tag. Er ist auchMaler und arbeitete zusammen mit ReinhardSchulz in den Neinstedter Anstalten. WolfgangVillbrandt ist kein Mann der großen Worte.Ohne zu zögern half er seinem Kollegen denersten Transport zu verladen.

Und beim zweiten Transport des Vereins "Kindervon Tschernobyl" war er dann schon mit dabeiauf der Reise nach Ivje. Nachdem der ersteTransport geklappt hatte, nahm die Hilfsbereitschaftnoch zu. Drei Transporte jährlich fuhren inder Anfangszeit Richtung Weißrussland. 25Fahrten waren es insgesamt. Und immer mitMedizin. "Natürlich freuen sich die krankenKinder auch über eine Tüte Bonbons. Aber wirklichhelfen tun nur Medikamente", erklärt ReinhardSchulz. Zwischen drei und vier Tagen bliebendie Helfer immer in Ivje. "Wir wollten auchetwas lernen vom Alltag und Leben der Leutein Ivje und lebten bei Gastfamilien", erklärtWolfgang Villbrandt. "Ich habe selbst fünfKinder, und das Leid und Elend der Menschendort ging mir oft sehr nah." Neben der Unterstützungfür das Krankenhaus in Ivje kümmerte sichVillbrandt mit den übrigen Helfern auch umEinzelschicksale. An die einjährige Viktoriaerinnert sich Reinhard Schulz auch noch gut.

Sie hatte einen angeborenen Herzfehler. "Alsich alles besorgt hatte, Ärzte, eine künstlicheHerzklappe, Medikamente, musste ich die Operationkurz vor Weihnachten absagen. Sie war einfachzu jung und hätte den Eingriff nicht überlebt."Die kleine Anna hingegen konnte Schulz fürvier Wochen in den Harz holen. "Hier blühtesie nochmal richtig auf und ihr ging es gut.Das war ein schönes Erlebnis." Gleich 1992hatte er sie bei seinem Besuch kennen gelernt.Ihre Organe waren aber durch die Radioaktivitätstark angegriffen und sie starb 1995 mit nur14 Jahren.

Gerne hätten Reinhard Schulz und WolfgangVillbrandt den Menschen in Ivje weiter geholfen.Jede freie Minute opferte Reinhard Schulzseinem Engagement. "Aber am Ende ging es einfachnicht mehr weiter. Die politische Blockadeder weißrussischen Regierung war unumgänglich."Medizintransporte sind mittlerweile gänzlichunerwünscht. Im Mai 2005 wagte Reinhard Schulzeinen letzten Versuch mit dringenden Medikamenten.Aber der Grenzposten war Endstation und sogareine mehrjährige Haftstrafe drohte den Helfern."Das war der Zeitpunkt aufzuhören." Was bleibtsind 13 Jahre an Erinnerungen.