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30 Jahre MZ  30 Jahre MZ : Harzrundfahrten wenn der Baulärm nervte

Von Benjamin Richter 11.06.2020, 11:56
Bewegungsbad im Paracelsus-Harz-Klinikum Bad Suderode im Jahr 1995
Bewegungsbad im Paracelsus-Harz-Klinikum Bad Suderode im Jahr 1995 Paracelsus-Harz-Klinik

Bad Suderode - Ein Geschäftsführer, der im Rolls Royce vorfährt, und eine Unternehmensleitung, die das Bilden eines Betriebsrats zunächst als „nicht erwünscht“ beiseite fegt: Wenn Mario Becker zurückblickt, sieht er an der Übernahme des Kliniksanatoriums in Bad Suderode durch die Paracelsus-Gruppe nicht nur gute Seiten. Auch das eine oder andere Klischee über die „Wessis“, schildert der Klinikkoch, habe sich damals, in den Wendejahren, bestätigt.

Insgesamt habe die erste Privatisierung einer Klinik in den neuen Bundesländern - denn genau die lief damals in Bad Suderode ab - aber mehr Vorzüge als Nachteile mit sich gebracht.

Ähnlich sehen es Luise Hellmund und Angelika Nabert. Genau wie Becker haben die beiden Krankenschwestern die bewegten Jahre des Trägerwechsels in der Zeit nach der friedlichen Revolution selbst bereits im Dienst der Klinik miterlebt.

„Währenddessen war die Klinik ganz normal belegt, der Betrieb ging weiter“

„Es hat sich sehr viel geändert“, blickt Nabert zurück, die schon vor der Privatisierung 25 Jahre lang in der Einrichtung tätig gewesen war. Von all den Neuerungen sei der Umbau mit Erweiterung und Sanierung, der von 1992 bis 1994 in fünf Abschnitten erfolgte, wohl die sichtbarste gewesen. „Währenddessen war die Klinik ganz normal belegt, der Betrieb ging weiter“, schildert Angelika Nabert - geschlossen habe der Träger die Einrichtung nur unmittelbar nach der Übernahme, im Januar 1991, für drei kurze Monate. Damals erfolgte der „Osterputz“, also erste Renovierungen und Verschönerungen des im Mai 1962 als Sanatorium „Willi Agatz“ eröffneten Klinikkomplexes.

Kaufgespräch wird zum Kampf

Bevor es aber überhaupt so weit kam, verhandelte Bianka Kachel mit der Paracelsus-Unternehmensgruppe die Bedingungen für den Verkauf. Zuweilen sei das eine zähe Angelegenheit gewesen, urteilt die damalige stellvertretende Bürgermeisterin von Bad Suderode (SPD) heute.

„Wir haben versucht zu kämpfen“, erinnert die 75-Jährige, die damals nur deshalb als Verhandlungsführerin auftrat, weil der Bürgermeister einen Tag vor dem Treffen mit dem Osnabrücker Konzern in den Urlaub gefahren war. Als Ziel, setzt Kachel auseinander, habe sie sich damals gesetzt, eine Million D-Mark für die Klinik zu bekommen. „Dafür musste ich mir schon mal Sprüche anhören wie: ,Sie kämpfen ja um jede Schreibmaschine!‘“

Auf der anderen Seite hätten Unzufriedene im Nachgang der Verhandlungen versucht, sie wegen Verschenkens von Volkseigentum anzuzeigen. Als großes Glück für Bad Suderode sieht Bianka Kachel, dass das Sanatorium nach der Wende nicht in die Obhut der Treuhand, sondern in die des Orts gelegt wurde. Und letzten Endes sei mit der Zusage an Paracelsus die Wahl auf den Richtigen gefallen: 43 Millionen Euro habe das Gesundheitsunternehmen in den Folgejahren in Bad Suderode investiert, außer in die Klinik etwa auch in die örtliche Infrastruktur.

Der Löwenanteil dieser Summe floss, wie einer Klinik-Chronik aus dem Jahr 2011 zu entnehmen ist, in die Um- und Neubauten auf dem Sanatoriumsgelände sowie die Sanierung der dortigen Altbauten.

Neu entstanden damals demnach etwa ein Schwimmbad und eine Sauna, ein Haus mit 72 Betten, ein Seminarraum und ein fünftes Obergeschoss auf dem bestehenden Altbau. Dass die Patienten in der mehrjährigen Bauphase von alledem möglichst wenig mitbekamen, ist Schwestern wie Angelika Nabert und Luise Hellmund zu verdanken.

„Wenn es zu laut wurde, haben wir eine Harzrundfahrt für die Patienten angeboten und diese selbst begleitet“, legt Nabert dar. Luise Hellmund erinnert sich noch ganz genau, dass eine Fahrt zum Kyffhäuser sehr gut angenommen wurde.

Jeder Raum hatte dann eine eigene Nasszelle

Sehr gut seien auch die Veränderungen bei der Ausstattung der Klinik bei denen angekommen, die sich vor dem Trägerwechsel schon mal dort aufgehalten hatten, hebt Angelika Nabert hervor. Wo sich zuvor Patienten aus mehreren Zimmern eine Toilette und eine Dusche auf dem Flur teilen mussten, gab es plötzlich eine Nasszelle in jedem Raum. Auch optisch sei mit Teppichen in den Fluren sowie Bildern und Blumen für eine angenehmere Atmosphäre gesorgt worden. Dazu, merkt Mario Becker an, habe auch beigetragen, dass der neue Geschäftsführer das Heizungssystem umgestellt und die Klinik sich von der Braunkohle verabschiedet habe. „Dadurch wurde die Luft sauberer“, bilanziert der Koch, „ein Zugewinn für die Umwelt und alle Patienten und Mitarbeiter.“

Neue Töpfe und exotische Früchte

Becker kann aus erster Hand berichten, dass sich mit der Privatisierung, aber auch mit dem politischen Systemwechsel auch in der Küche der Klinik einiges änderte. „Es gab plötzlich Speisen, bei denen man erst mal nachschlagen musste, um zu wissen, was das ist“, beschreibt Becker und nennt als Beispiel die Frucht Lychee. In kurzer Zeit seien neue Speisepläne erstellt und die Küche so umstrukturiert worden, „dass es funktioniert und finanziell passt“.

Auch personell habe es Anpassungen gegeben: Sorgten zu DDR-Zeiten noch 20 Küchenfrauen dafür, dass die Patienten ihr Essen auf den Tisch bekamen, seien es heute noch zwei in einer Schicht. Reichlich neue Ausstattung, wie zeitgemäße Töpfe und Pfannen, hätten ihm und seinen Kollegen die Arbeit von da an deutlich erleichtert, ergänzt Mario Becker.

„Früher kamen vor allem Bergleute zur Kur her“

Heute behandeln die Ärzte der Paracelsus-Harz-Klinik, die vor der Wende den inoffiziellen Titel „Silikose-Heim“ nach einer Lungenkrankheit trug, auch Erkrankungen an Herz und Kreislauf sowie Krebs. Aus den 200 Betten vor dem Umbau sind innerhalb von drei Jahren 260 geworden, von denen sich die meisten jetzt, anders als zuvor, in Einbettzimmern befinden. Statt 80 gibt es heute in der Einrichtung nur noch 15 Zweibettzimmer. Auch die Patienten sind ganz andere als früher, erläutert Becker: „Früher kamen vor allem Bergleute zur Kur her. Die waren in der Regel gut zu Fuß und machten gern mal Ausflüge in den Ort.“

So mobil seien die Patienten, um die sich Kardiologie, Onkologie und Pneumologie heute kümmern, oftmals nicht - daher müsse, wie Angelika Nabert unterstreicht, die Klinik auf dem Berg ihr Bewirtungs- und Verweilangebot inzwischen breiter aufstellen. Mit der Cafeteria, dem Clubraum und dem neu gestalteten Speisesaal sei das gelungen.

Inzwischen haben sich die neuen Arbeitsabläufe, die nach dem Trägerwechsel Einzug hielten, längst zur Routine entwickelt. Niemand staunt mehr über die Telefone und Fernseher in den Zimmern, und wie sie Patientenbesuche mit dem Computer dokumentieren, ist Luise Hellmund und Angelika Nabert in Fleisch und Blut übergegangen. Mit der Aufregung und zeitweise herrschenden Unklarheit der Nachwendezeit verschwand auch ein Kuriosum, an das sich die beiden Krankenschwestern heute mit einem Schmunzeln erinnern: der Fahrstuhlführer. „Den gab es nur in der Umbauphase“, erklärt Angelika Nabert, denn damals musste, wer ins zweite Obergeschoss wollte, mit einem Aufzug erst einmal ins vierte und anschließend auf der anderen Seite des Haupthauses mit einem anderen wieder hinunter ins zweite fahren. „Das konnte man von den Patienten nicht erwarten, dass sie das selbst finden“, schätzt Mario Becker.

Bianka Kachel bei einem Richtfest in Bad Suderode nach der Wende.
Bianka Kachel bei einem Richtfest in Bad Suderode nach der Wende.
U. Moch
Luise Hellmund (v.l.n.r.), Angelika Nabert und Mario Becker.
Luise Hellmund (v.l.n.r.), Angelika Nabert und Mario Becker.
D. Leppin