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Stadtbummel Stadtbummel: Hausherr Dicker Wilhelm

Von HANS-DIETER SPECK 30.10.2011, 09:14

Zur Neuenburg wandern, da führt - steigt man nicht gerade aus dem Unstruttal herauf - der bequemere Weg vom Edelacker durch eine Siedlung: Ländlich geprägt, mit Hühnern, Hunden und Katzen, eine Ansammlung kleiner Häuser im Schatten des Bergfrieds der Neuenburg, des Dicken Wilhelms. Wir klopfen an bei Erna Cebulla, geborene Müller. Nicht von ungefähr, denn die freundliche 76-jährige ist die Einwohnerin, die am längsten in der Siedlung wohnt. Genau seit 1945. Damals kam sie, gerade zehn Jahre alt, mit ihren Eltern, zwei Brüdern und zwei Schwestern aus dem Sudetenland in Freyburg an. Die ganze Habe in einem Handwagen und im Kinderwagen mit dem Baby verstaut. Die Flüchtlinge kampierten zunächst im Schützenhaus. Weil aber auf der Domäne am Schloss Arbeitskräfte gesucht wurden, erhielt die Familie dort oben Quartier, schließlich in der so genannten Polenkaserne. "Wir bekamen zwei Zimmer und lebten dort zusammen mit fünf Familien mit vielen Kindern."

Die einstige Arbeiterkaserne ist mit ihrer Holzfassade der auffälligste Bau am Weg zur Neuenburg, steht unter Denkmalschutz und wurde 1906 erbaut. Damals wurde die zur Neuenburg gehörende Domäne baulich erweitert und in der Kaserne waren die in Polen angeworbenen Saisonarbeiter untergebracht, weshalb sie der Volksmund "Polenkaserne" nannte. "Die Größe der Räume ist so angelegt, dass für 16 Mädchen und acht Männer sowie für einen verheirateten Aufseher genügend Platz ist", heißt es in der zeitgenössischen Baubeschreibung. Heute ist die Kaserne zweigeteilt. In der einen Hälfte wohnt der einstige LPG-Schäfer auf der Neuenburg, Herbert Jahn (73), mit Ehefrau Ingrid (70), in der anderen Hälfte ist der Besitzer dabei, eine Pension einzurichten. Gerüste sind angebracht. Die gesamte Fassade erhält einen frischen Anstrich.

Mit dem ebenfalls 1906 entstandenen Fünffamilienhaus - heute von zwei Familien bewohnt - gehört die Kaserne zu den ersten Wohnungen in heutiger Siedlung außerhalb der Burg. In den nachfolgenden Jahren entstanden weitere kleine Häuser, meist Doppelhäuser. Der Gutsbezirk bekam sogar von 1850 bis 1928 den Status einer selbständigen Gemeinde "Domäne Schloß Freyburg".

Das endgültige Ende der Schloss-Domäne kam mit der Bodenreform 1945. "Da erhielten wir per Los auch Land und Wohnung", erzählt Erna Cebulla, geborene Müller. Ihr Vater Hermann Müller bekam mit weiteren 21 Neubauern aus den 192,15 Hektar enteigneten Domänebesitz fünf Hektar Ackerland und die Hälfte der Kaserne. Neubauern, die meterweise den großen Rinder- oder Ochsenstall erhielten, rissen diese ab, um sich aus dem gewonnenen Baumaterial Wohnhäuser zu bauen oder zu erweitern. Erna Müller heiratete später ihren Schulkameraden Karl-Heinz Cebulla, dessen Vater Karl ebenfalls zu den 22 Neubauern gehörte, die Land und Wohnrecht in der Domänensiedlung erhielten. Heute wohnt Erna Cebulla im baulich erweiterten Grundstück Schloss 22 mit ihrem ältesten Sohn, der ein Fliesen-, Um- und Ausbaugewerbe betreibt, mit dessen Frau und ihrem Enkel.

Etliche Siedlungsbewohner sind miteinander verwandt, nicht wenige stammen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Auch die älteste Einwohnerin, Frieda Werner. Die 80-jährige war als junges Mädchen fünf Jahre in polnischer Gefangenschaft, ihre Schwester wurde nach Russland verschleppt, wo sie ums Leben kam. Heute wohnt sie in einem der kleinen Landarbeiterhäuser, das wie viele umfänglich erweitert wurde und heute geteilt ist. Sie selbst lebt in zwei Zimmern mit Küche. Ihre Nachbarn sind eine große Familie mit fünf Kindern. Auch Frieda Werner, die viele Jahre im Museum tätig war, hat zwei Söhne, drei Töchter und zehn Enkel. Die Siedlung ist bemerkenswert kinderreich. Über 16 Kinder leben hier, und die jungen Familien setzten durch, dass regelmäßig der Schulbus zum Schloss kommt.

Auffällig am Weg ist, nicht weit von der Kaserne, das Fünffamilienhaus. Karin Radtke (45) bewohnt es mit ihrem Lebenskameraden und zwei Söhnen. Ihre Eltern Edeltraud und Erfried Rotzoll bewohnen die andere Hälfte des Bauwerks. Karin Radtke erinnert sich, dass in dem Haus noch um 1970 fünf Familien, insgesamt 16 Personen, gewohnt haben.

Margarete Kurzhals (72), auch eine Heimatvertriebene aus dem Sudetengau, lebt seit 1948 am Fuß des Dicken Wilhelms und hat mehr als 20 lustige Gartenfiguren im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte gesammelt. Touristen, vor allem die Kinder staunen über diese kunterbunte Welt hinter dem Maschendrahtzaun am Wegesrand. Und wenn zweimal im Jahr in und um die Neuenburg die Mittelaltermärkte veranstaltet werden, denkt mancher, das alles gehöre ganz einfach dazu.