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Leute von nebenan Neuer Mut nach Alptraum: Neunjähriger Steinburger kämpft sich ins Leben zurück

Bei Tristan Treuse kollabiert vor einem Jahr von jetzt auf gleich quasi der gesamte Körper. Kind und Eltern erfahren riesige Unterstützung.

Von Andreas Löffler Aktualisiert: 13.09.2023, 14:20
Nach schwerstem, lebensbedrohlichem Kranksein kämpft sich der neunjährige Tristan Treuse aus Steinburg (hier mit seinen Eltern Monika Treuse und Tino Unger) tapfer und mit einem Lächeln Schritt für Schritt ins Leben zurück.
Nach schwerstem, lebensbedrohlichem Kranksein kämpft sich der neunjährige Tristan Treuse aus Steinburg (hier mit seinen Eltern Monika Treuse und Tino Unger) tapfer und mit einem Lächeln Schritt für Schritt ins Leben zurück. (Foto: Andreas Löffler)

Steinburg - Es ist ein locker-fröhlicher Plausch mit einem jugendlich-glühenden FC-Bayern-München-Fan – über seinen derzeitigen Lieblingsspieler Jamal Musiala, über seine stolze, bald auf fünf Exemplare anwachsende Sammlung an Originaltrikots. Doch als ich Tristan Treuse zum Abschied die Hand geben will, bleibt seine unbeweglich im Schoß liegen. Und sofort setzt die Wahrnehmung wieder ein - dafür, dass mein Gegenüber im Rollstuhl sitzt und dafür, dass ihm sein Körper eben nicht gehorcht wie jedem anderen Heranwachsenden.

Der heute Neunjährige und seine Eltern Monika Treuse und Tino Unger haben einen absoluten Alptraum durchgemacht. Aus heiterem Himmel und buchstäblich von jetzt auf gleich, von einem Tag auf den anderen, erkrankte der kleine Steinburger Mitte September vorigen Jahres schwerst, musste per Rettungshubschrauber ins hallesche Uniklinikum geflogen, dort wiederholte Male wiederbelebt werden. „Die ersten vier Wochen stand es Spitz auf Knopf. Auch das, wie wir in der Rückschau nur noch mehr zu schätzen wissen, dortige hochengagierte Ärzteteam kam trotz eigener Expertise und Konsultation von externen Spezialisten – Tristans Fall dürfte die halbe deutsche Medizinerwelt kennen – der eigentlichen Ursache des Total-Zusammenbruchs so ziemlich aller Körperfunktionen nicht auf die Spur“, sagt Vater Tino Unger.

Seinen Fall dürfte die halbe deutsche Medizinerwelt kennen.

Tino Unger, Vater

So schlimm habe es gestanden, dass der Fall bereits von der Ethikkommission des Hauses besprochen wurde, in allerletzter Konsequenz sogar die Frage im Raum stand, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten. „Als Eltern willst du dein Kind natürlich nicht aufgeben. Gleichwohl beschäftigte uns auch der Gedanke, ob Tristan das alles überhaupt noch ertragen, man ihm all die Schläuche und Geräte an seinem Körper überhaupt noch zumuten kann“, schildert Mutter Monika Treuse, die im Krankenhaus Tag und Nacht an der Seite ihres Kindes wachte, ihre damalige Gefühlslage.

Welche unvermittelt von einem Strom der Hoffnung geflutet wurde, als ihr Sohn, aus dem künstlichen Koma zurückgeholt, erstmals eine bewusste Rückmeldung auf ihre an ihn gerichteten Worte zeigte. „Es war ein Augenblinzeln an einer ganz bestimmten Stelle seiner Lieblingsgeschichte von einer Schildkröte. Ich war so baff, dass ich die Passage wieder und wieder vorgelesen habe und durch Tristans abermaliges Reagieren bestätigt sah, dass es sich nicht um eine spontane Zufallsregung handelte.“

Zu diesem Wunder habe sich ein zweites gesellt – nämlich jenes, „dass sich die auf dem MRT weiß dargestellten, sprich ausgefallenen Hirnregionen wieder zu verkleinern begannen“, erläutert Tino Unger. Mitte Oktober 2022 wurde Tristan in eine Spezialklinik nach Dresden verlegt, wo eine sogenannte Plasmapherese, also der Austausch des angegriffenen Blutplasmas, für eine weitere Verbesserung seines Zustands sorgte. „Täglich kam nun eine ermutigende Kleinigkeit dazu: dass er diesen Finger wieder bewegen kann oder jenen Zeh zum Beispiel“, veranschaulicht der Vater.

Mitte November schließlich kam der tapfere Junge in eine Reha-Klinik in Kreischa – und kämpfte sich dort Schritt für Schritt ins Leben zurück. „Aufrechtsitzen, Essen und nicht zuletzt das Sprechen mit der ihm im Zuge der Langzeitbeatmung eingesetzten Trachealkanüle: All das musste Tristan wieder lernen - quasi bei null beginnend und fast wie ein Neugeborenes“, beschreibt Monika Treuse. Was ihre und ihres Mannes größte Freude ist: „Selbst als Tristan anfangs lediglich mittels eines augengesteuerten Schrift- und Sprachcomputers mit uns zu kommunizieren vermochte, konnten wir doch sofort sehen, wie viel bei ihm geistig noch da ist. Wir waren richtiggehend begeistert darüber, was unser Junge zu leisten vermag und welchen Willen er zudem an den Tag legt“, erzählt die 43-Jährige.

Tristan musste alles wieder lernen - fast wie ein Neugeborenes.

Monika Treuse, Mutter

Die weiteren Fortschritte genauso vor Augen wie Tristans aufkommende „Reha-Müdigkeit“, bereiteten die Eltern auf lange Sicht und bereits ab April dieses Jahres schließlich dessen Rückkehr nach Hause und in den Alltag, auch in den Schulbetrieb vor. „Natürlich war der allererste und uns auch liebste Gedanke, dass Tristan, der in Kreischa Unterricht erhalten hatte, wieder in seine angestammte Klasse an der Sebastian-Kneipp-Grundschule in Saubach zurückkommt – wobei aber eben auch zu berücksichtigen war, dass er jetzt ja im Rollstuhl sitzt“, umreißt Tino Unger die Ausgangssituation.

„Glücklicherweise hat die dortige Schulleiterin Daniela Noth uns sofort signalisiert, dass sie und ihr Kollegium trotz der damit verbundenen Herausforderungen bis hin zum Bau einer Rampe alles dafür tun werden, dass Tristan wiederkommen kann“, würdigt Monika Treuse - und blickt auf den erreichten Erfolg: Seit Beginn des Schuljahres befindet sich Tristan wieder im Kreis seiner Saubacher Mitschüler, ist sogar Klassensprecher geworden und hat sich bei der Theater-AG angemeldet. „Das ist cool und fühlt sich gut an“, sagt er und ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Was denn seine Lieblingsfächer seien? „Deutsch und Englisch. Tja, und früher auch Sport“, berichtet der Junge, der vor seinem Schicksalsschlag für die Jugend-Kicker aus Saubach/Bad Bibra sozusagen die Tornetze zerschoss, in einem Spiel sogar mal ganze vier Treffer erzielte.

Seinen Humor hat er nicht verloren. „Was ist fünf mal fünf?“, fragt er - und kommt nach meiner pflichtschuldigen „25!“-Antwort genüsslich mit jener Pointe um die Ecke, mit der er übrigens kurz vor dem Helikopter-Rettungsflug nach Halle schon seinen aufgelösten Vater verblüfft hatte: „Nö, fünf mal fünf ist… eine Rechenaufgabe“, so Tristan spitzbübisch.

Eine wahre Herkules-Aufgabe hatten – und haben – Tristans Eltern zu schultern: Beanspruchten anfangs die Ungewissheit sowie das ständige Hoffen und Bangen ihre Kraft, verlangt ihnen nun die komplette Neuorganisation des Alltagslebens der Familie jede Menge Energie ab. „Da sind schon Sachen dabei, bei denen man echt schlucken muss“, presst Tino Unger hervor. „Um Tristan transportieren, auch mal einen Ausflug mit ihm unternehmen zu können, haben wir uns einen Kleinbus angeschafft, was im Grunde unsere gesamten Ersparnisse aufgezehrt hat. Theoretisch kannst du dafür einen 75-prozentigen Zuschuss erhalten. Aber du darfst das Fahrzeug erst dann kaufen, wenn dein Förderantrag nach womöglich mehrmonatiger Bearbeitungszeit irgendwann endlich mal bewilligt sein sollte: Natürlich konnten wir darauf nicht warten!“, verdeutlicht er.

In den eigenen vier Wänden in Steinburg steht jetzt der gleichfalls kostenintensive Umbau des bisherigen Gäste-WCs mitsamt Installation einer ebenerdigen Dusche, zudem gegebenenfalls die Montage eines Treppenlifts zu Tristans Kinderzimmer im Obergeschoss an. „Zu unserem großen Glück verfügen wir über ein weitgespanntes Netzwerk an Freunden und Helfern, haben beide dankenswerterweise auch Arbeitgeber, die uns jedes Verständnis entgegengebracht und den Rücken freigehalten haben“, betont Monika Treuse. Und dass die SG Finne Billroda, für die er als Fußballer einst selbst aktiv war, im November sogar einen großangelegten Spendenlauf zugunsten der Familie auf die Beine stellen will, „berührt uns sehr. Wir sind total dankbar“, so Tino Unger.