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Hintergrund Hintergrund: Formen von ADHS im "Struwelpeter"

03.08.2014, 09:06
Tabletten wie Ritalin sind eine, aber nicht die einzige Hilfe für Kinder mit ADHS. Doch die richtige Diagnose ist nicht immer einfach.
Tabletten wie Ritalin sind eine, aber nicht die einzige Hilfe für Kinder mit ADHS. Doch die richtige Diagnose ist nicht immer einfach. Archiv Lizenz

Naumburg - Erik (Name geändert und der Redaktion bekannt) war ein ruhiges und ausgeglichenes Sonnenschein-Baby. Nichts schien damals darauf hinzudeuten, dass der Junge später ein ganz anderes Wesen offenbaren würde. „Eines Tages, als Erik in der ersten Klasse war, wurde ich von der Schule angerufen. Ich solle doch so schnell wie möglich mein Kind abholen. Ich fand ihn schließlich brüllend im Raum vor. Er ließ keinen an sich ran, selbst mich nicht. Ich fühlte mich so hilflos“, erzählt Silke Möller, die Mutter des Kindes (Name ebenfalls geändert).

Von da an beginnt für die Eltern ein Teufelskreis, eine nervenaufreibende Zeit, die Mutter und Vater an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt - sowohl körperlich als auch seelisch. Mit Anrufen, dass Erik mal wieder neben der Spur war und abgeholt werden müsse, und seinen unberechenbaren Ausfällen. Er bockt, er schreit, er spuckt, er schlägt. Schnell wird mit der Vermutung „ADHS“ ein Urteil gefällt, auch der Verdacht Asperger Syndrom wird geäußert.

Individuelle Behandlung wichtig

Mehrere Ärzte werden konsultiert - vom Kinderpsychologen bis zum Psychiater. Erik bekommt Tabletten verschrieben. „Diese haben allerdings alles nur noch verschlimmert. Er provozierte, wurde bösartiger. Das war nicht mehr mein Kind, wie ich es kannte“, berichtet die Mutter. Hinzu kamen Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit und Gewichtsverlust.

Silke und Thomas Schwerdtfeger, Fachärzte für Nervenheilkunde sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie aus Naumburg, sind Spezialisten, wenn es um das Thema ADHS und Verhaltensauffälligkeiten geht. „Beides wird meist in einen Topf geworfen. Aber das ist Quatsch“, betont Thomas Schwerdtfeger. Es gebe sowohl verhaltensauffällige Kinder mit ADHS, aber auch ohne. Beide Fachmediziner fordern nicht nur, dass jedes betroffene Kind individuell betrachtet, behandelt und gefördert wird. Vor allem wünschen sie sich ein Ende der Stigmatisierung in Schulen und allgemein in der Öffentlichkeit. „Jeder negativen Eigenschaft steht eine positive Eigenschaft gegenüber. Wenn nicht sogar mehrere“, sagt Silke Schwerdtfeger. Jene Kinder haben meist einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, sind sehr sportlich, kreativ, aktiv und hilfsbereit. Unter vielen Berühmtheiten finden sich ADHSler, wie Beethoven, Einstein oder Microsoft-Gründer Bill Gates. Eine schlechte Behandlung beispielsweise Geringschätzung oder im schlimmsten Fall Mobbing könne schwerwiegende Folgen haben, meinen die Psychiater und nennen Schulangst und Depressionen. Nach der Diagnose sei es wichtig, eine ganzheitliche Therapie zu finden, zur der im Fall ADHS neben Ergotherapie auch eine medikamentöse Behandlung zähle. Und es sei falsch, diese zu verteufeln, meinen beide Mediziner. „Einige Kinder werden erst durch die Medikamente therapiefähig“, bemerkt Silke Schwerdtfeger. Die Tabletten machen nicht abhängig. Ein guter Arzt verschreibe diese genau auf das Kind angepasst und mit Abstimmung der Eltern. Eine wichtige Hilfe im Alltag sei es, grundsätzlich eine reizarme Umgebung und einen strukturierten Arbeitsablauf zu schaffen.

Eriks Eltern fassen schließlich eine folgenschwere Entscheidung, die womöglich andere Eltern nicht nachvollziehen können, die Silke Möller und ihrem Mann indes ebenfalls schwerfiel. „Wir haben unseren Jungen in eine Psychiatrie einweisen lassen.“ Wenn Eriks Mutter davon erzählt, kommen ihr heute, gut zwei Jahre später, noch immer die Tränen. Für sechs Monate war die Klinik im thüringischen Stadtroda Eriks Zuhause. Von dort kam schließlich die Diagnose: kein ADHS, aber eine Verhaltensstörung. Die Medizin wurde abgesetzt, ein Verhaltensplan erarbeitet. Es gibt dabei klare Anweisungen, Regeln und Verbote.

Gesprächskreis im Jugendhaus

Hilfe, vor allem Zuspruch erhält Eriks Mutter noch immer in einem Gesprächskreis, der unter Leitung der Motopädin Beate Röder regelmäßig zusammenkommt. Eltern und Großeltern berichten in einem kleinem Kreis von ihren neuesten Erlebnissen und Erfahrungen mit ihren Kindern und Ärzten. Ende 2012 im Kinder- und Jugendtreff „Freizi“ ins Leben gerufen, ist die Gruppe nun im Naumburger Jugendhaus „Fischgasse“ beheimatet. Im Haus werden zudem das Marburger Konzentrationstraining und Motopädiekurse angeboten. In dem Kurs werden auf kindgerechte Art Sozialkompetenz, Handlungsstrategien sowie Fähigkeiten auf dem motorischen und emotionalen Gebiet gefördert. Beate Röders Rat an betroffene Eltern: „Auf alle Fälle eine Hilfe suchen, die passt. Jede Förderung ist meist langwierig, deshalb sollte man sehr viel Geduld mitbringen.“ Sie fordert ebenfalls, dass Kinder und Eltern Toleranz erfahren sollen, sie nicht einseitig verurteilt werden dürfen. Vor allem letztere werden schnell hinsichtlich ihrer Erziehungskompetenzen kritisiert, bemerkt Beate Röder. Diese Ablehnung erleben Betroffene auch in Schulen, zeigen sich Lehrer überfordert. „Da hat sich in den vergangenen Jahren allerdings schon einiges geändert, werden Fortbildungen angeboten und wahrgenommen“, bemerkt die Motopädin, die in Vorträgen über das Thema spricht, Elternsprechstunden anbietet.

Erik und seiner Familie geht es heute besser. Erleichtert zeigt sich seine Mutter, wenn sie von der Gegenwart spricht. Obwohl sie noch immer etwas Angst hat, wenn das Telefon klingelt und mit ihrem Sohn wieder etwas sein könnte. Der Junge wird von einer Psychologin betreut, in der Schule hat er eine Integrationshelferin zur Seite. Dass sich Silke Möller mit ihrem persönlichen Fall an unsere Zeitung gewandt hat, hat einen Grund: „Ich wollte gern anderen betroffenen Eltern Mut machen, dass es Hilfe und eine Lösung gibt.“

Silke (3.v.l.) und Thomas Schwerdtfeger (3.v.r.) mit ihrem Team und einem markanten Zitat (Hintergrund), das in der Praxis zu lesen ist.
Silke (3.v.l.) und Thomas Schwerdtfeger (3.v.r.) mit ihrem Team und einem markanten Zitat (Hintergrund), das in der Praxis zu lesen ist.
T. Biel Lizenz