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Querfurt Querfurt: Der etwas andere Empfang im Rathaus

Von Susann Salzmann 07.06.2016, 11:00
Darf sonst nur die Rathauschefin tragen: Die fünfjährige Charlotte bestaunt beim Tag der offenen Tür die Amtskette der Bürgermeisterin.
Darf sonst nur die Rathauschefin tragen: Die fünfjährige Charlotte bestaunt beim Tag der offenen Tür die Amtskette der Bürgermeisterin. Susann Salzmann

Querfurt - Die Sozialministerin sollte kommen. Nach Querfurt. Auf den Marktplatz, und zwar um Punkt 14 Uhr. Um sich einen Eindruck über die Qualität der ehrenamtlichen Arbeit von Marlis Reinhardt, der Leiterin der Querfurter Selbsthilfegruppe der Blinden und Sehbehinderten, zu verschaffen. Ganz geheuer kommt es der 59-Jährigen nicht vor, als sie Ehemann Jürgen am Samstag mit dieser Aussage konfrontiert. Pünktlich steht das Ehepaar vor dem Rathaus.

Was ihr Mann schon weiß, ist für die späterblindete Betriebswirtin eine große Überraschung. Querfurts Stadtoberhaupt, Nicole Rotzsch (CDU), ruft ihren Namen auf. Die Querfurterin glaubt, nicht recht gehört zu haben. Gerührt und an der Seite ihres Gemahls tritt sie in den Fokus von über einhundert Besuchern. Sie jubeln lauthals, als die Frau für ihr ehrenamtliches Engagement ausgezeichnet wird.

Zwei verdienstvolle Bürger

Marlis Reinhardt ist eine von zwei verdienstvollen Bürgern in Querfurt, die trotz ihres Handicaps nicht nur ihr Leben in die Hand nehmen, sondern auch die Gesellschaft voranbringen. Bürgermeisterin Rotzsch hat die Ehrung (sonst üblicherweise zum Neujahrsempfang, der in diesem Jahr aufgrund der Haushaltslage ausfiel) zum ersten Tag des offenen Rathauses nachgeholt.

„Ohne diese Leute wäre Querfurt nicht das, was es ist“, lobt die Bürgermeisterin. Ohne Reinhardt würde es wohl keine Querfurter Blinden-Selbsthilfegruppe mehr geben. „Es hat sich damals einfach niemand für das Amt finden lassen“, sagt die engagierte Frau. Hochgradige Kurzsichtigkeit führte bei ihr zwischen 1999 und 2007 peu à peu zum Sehverlust.

„Heute kann ich noch hell und dunkel unterscheiden“, schildert Reinhardt. 2005 tritt sie der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfegruppe bei. Zwei Jahre später macht sie eine PC-Ausbildung für Sehbeeinträchtigte und lernt die Punktschrift. „Der Umgang mit Menschen ist mir sehr wichtig“, sagt sie. Deshalb übernimmt sie 2010 die Leitung der SHG, organisiert bis zu drei Zusammenkünfte der Mitglieder im Monat, kommuniziert via E-Mails. Diese Arbeit wirke bei ihr wie ein Lebenselixier.

Wie lange sie noch weitermachen möchte? Diesbezüglich haben Reinhardt und die ebenfalls geehrte Ingrid Oetzmann dieselbe Meinung. „Solange ich von meinen Mitgliedern gebraucht werde“, sagt die 79-jährige Vitzenburgerin Oetzmann. Seit acht Jahren ist sie Präsidentin des Vitzenburger Faschingsclubs. Seit den 1970ern gehört die einstige Lehrerin für Bio und Chemie zum Karnevalskader. „Obwohl ihre Gesundheit nicht immer stabil ist“, würdigt Bürgermeisterin Rotzsch.

70 Faschingsclubmitglieder

Wie es ihr ginge, wenn sie ihre etwa 70 Faschingsclubmitglieder nicht hätte? Schlechter bestimmt, denn, so bekennt die Seniorin: „Die jungen Leute spenden so viel Freude. Das weckt die Lebensgeister und wirkt besser als alle Tabletten und Pillen“. Ihre Arbeit und die Anerkennung geben ihr Kraft. Kraft im Kampf gegen den Hautkrebs, der bei ihr vor zwei Jahren diagnostiziert wurde.

Der Tag des offenen Rathauses sei viel besser als ein Neujahrsempfang, zu dem nur geladene Gäste kommen dürften, findet unterdessen Andrea Vettorazzi. So ist das Töchterchen Charlotte immerhin in den Genuss gekommen, die hoheitliche Amtskette im Büro der Bürgermeisterin selbst in die Hand zu nehmen. (mz)

Wurden geehrt: Marlis Reinhardt (l.) und Ingrid Oetzmann
Wurden geehrt: Marlis Reinhardt (l.) und Ingrid Oetzmann
Susann Salzmann