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Prozess nach Unfalltod Prozess nach Unfalltod: Die Suche nach der Wahrheit

Von UNDINE FREYBERG 26.06.2013, 18:20
Mitschüler hatten im Oktober an der Unfallstelle einen Brief für Angelique abgelegt.
Mitschüler hatten im Oktober an der Unfallstelle einen Brief für Angelique abgelegt. WÖLK/ARCHIV Lizenz

MERSEBURG/MZ - Eigentlich hatte Matthias S. seine Aussage bereits beendet und war vom Gericht als Zeuge entlassen worden. Doch er wollte unbedingt noch etwas sagen, und was er sagte, machte sicher viele der Anwesenden beim zweiten Verhandlungstag des Prozess um den Unfalltod der zehnjährigen Angelique betroffen. Er mache sich selbst Vorwürfe, sagte der Hallenser am Mittwoch zu den Geschehnissen rund um den Unfall im vergangenen Oktober. „Wenn ich nicht rübergefahren wäre in die rechte Spur, hätte das andere Auto die Ampel nicht passieren können. Damit muss ich jetzt leben.“ Das helfe jetzt nicht mehr, aber alles tue ihm sehr leid.

"Das wird gefährlich"

S. hatte zuvor geschildert, dass das weiße Fahrzeug des Angeklagten auf der B 91 auf der linken Spur hinter ihm war und seiner Meinung nach zu dicht auffuhr. Etwa 300 Meter vor der Kreuzung, so schätze er, sehe man die Ampel, erzählte der 44-Jährige, der täglich zwischen Halle und Leuna pendelt und die Strecke aus dem Effeff kennt. Wenig später habe die Ampel auf Gelb geschaltet. Er sei dann auf die rechte Spur gewechselt, hinter ein Auto, das an der Kreuzung B 91/August-Bebel-Straße bereits nur noch rollte oder schon stand - genau könne er das nicht sagen. Als die Ampel auf Rot schaltete, sei das weiße Fahrzeug noch drübergefahren. „Und ich dachte noch - das wird gefährlich.“

Auf Nachfrage von Verteidiger Frank Hummel sagte S. jedoch, dass die von ihm angegeben Entfernungen Schätzungen seien und auch die Geschwindigkeit des Unfallfahrers von „mehr als 70“ nur eine Schätzung wäre. S. konnte sich auch nicht mehr erinnern, wo sich die Vorderräder des Unfallfahrzeuges in Bezug auf Ampel und Haltelinie befunden haben. Der vom Gericht hinzugezogene Dekra-Unfallgutachter Chris Pfeilschifter war da schon eher zu Aussagen fähig. Zum einen musste er zum Teil einer Aussage widersprechen, die von einer Unfallzeugin am ersten Prozesstag gemacht worden war. Eine 23-Jährige hatte ausgesagt, dass sie sich sicher sei, also gesehen habe, dass die Fußgängerampel für das kleine Mädchen noch Rot zeigte, als es loslief.

Angeliques Mutti, die als Nebenklägerin auftritt, und ihre Anwältin, hatten dies bezweifelt. Eine nochmalige Inaugenscheinnahme der Kreuzung durch den Gutachter bestätigte: Die junge Frau hatte die Ampel aufgrund der Blenden aus ihrer Position nicht sehen können, denn sie saß im dritten Auto an der Linksabbiegerampel in Richtung August-Bebel-Straße.

Was den Unfallhergang anbelangt, hat Pfeilschifter berechnet, dass der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Unfallfahrer Jakob T. (Name geändert) etwa 75 Kilometer pro Stunde fuhr, als er das Mädchen erfasste. Dass er vorher schneller war, sei nicht nachweisbar, so der Gutachter. Für die 49 Meter vom Überfahren der Haltelinie bis zum Unfallort habe Jakob T. nach seinen Berechnungen 5,2 Sekunden gebraucht. Wenn man die Ampelphasen berücksichtige, ergebe sich eine Differenz von 0,73 Sekunden, die die Ampel des Angeklagten schon auf Rot war, als dieser die Haltelinie überfuhr.

Erwachsener oder Heranwachsender?

Allerdings neigte auch der Gutachter dazu, einer Vermutung zuzustimmen, die zwar durch mehrere Zeugenaussagen belegt ist, aber im Nachhinein nicht endgültig bewiesen werden kann - nämlich dass die Zehnjährige möglicherweise zu früh losgerannt ist und das aufgrund einer tragischen Verwechslung. Dort wo Angelique nämlich über die Straße gehen wollte, gibt es zwei Fußgängerampeln über die B 91. Die hintere, aus Sicht des Mädchens, bekommt drei bis vier Sekunden früher Grün. Mehrere Zeugen hatten am ersten Verhandlungstag ausgesagt, dass das Mädchen schon losgelaufen sei, als alle anderen noch an der Ampel standen. Ein anderes Mädchen hatte es noch festhalten wollen.

In einigen Tagen wird das Gericht ein Urteil fällen und muss erklären, ob Jakob T. den Tod der kleinen Angelique fahrlässig verschuldet hat. Wird der heute 20-Jährige dann als Erwachsener behandelt und mit einer Freiheitsstrafe rechnen müssen, oder wird er als Heranwachsender behandelt?

Die für solche Fälle zuständige Mitarbeiterin der Jugendgerichtshilfe des Jugendamtes plädierte am Mittwoch dafür, Jakob nach Jugendstrafrecht zu verurteilen. Gespräche mit ihm und seiner Mutter hätten ihr gezeigt, dass er nicht alterstypisch entwickelt sei und es ihm an Selbstständigkeit fehle. Bei dem Unfall habe er seine Leistungsfähigkeit stark überschätzt. Im Falle eines Schuldspruchs schlägt sie eine Verwarnung und die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung vor. Die Staatsanwältin scheint eher zum Erwachsenenstrafrecht zu tendieren. Jakob sei ein „Musterbeispiel an Erziehung und Geborgenheit wie wir das sonst nie haben“.