Privater Einsatz im Mittelmeer Privater Einsatz im Mittelmeer: Andreas Siegert und der Kampf ums nackte Überleben

Merseburg - „Die erste meiner sieben Rettungsaktion hat mir wirklich die Tränen in die Augen getrieben.“ Es sei einfach so schlimm gewesen. Er habe ja so etwas vorher noch nie erlebt, erzählt Andreas Siegert, der im Sommer für drei Wochen auf der MS „Aquarius“ war und Flüchtlinge auf dem Mittelmeer vor dem sicheren Tod gerettet hat.
„Ich hatte einen Artikel über dieses Schiff gelesen, dessen Einsatz nur durch Spenden und auch durch die Arbeit von Freiwilligen ermöglicht wird. Und ich dachte, das willst Du unbedingt machen“, erzählt der 57-Jährige bei einem Vortrag im Begegnungszentrum der Merseburger Stadtkirche. Und er hat es getan.
Die drei Wochen auf dem Mittelmeer haben ihm psychisch einiges abverlangt, ihn aber auch sehr geerdet. „Und ich habe Erfahrungen gemacht, die ich sonst nie hätte machen können.“ Das klinge jetzt nicht schön, aber er wisse jetzt zum Beispiel wie Leichen riechen. Er habe Menschen mit unvorstellbaren Verletzungen gesehen - mit Brüchen, Hiebwunden oder mit Verbrennungen. „Aber auch mit Bisswunden, denn sie kämpfen auf den Booten ums nackte Überleben“, so Siegert.
Einsatzgebiet im Mittelmeer außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone
Die „Aquarius“ habe ihr Einsatzgebiet außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste gehabt. Da man auf dem Schiffsradar nicht erkennen konnte, ob der Punkt, den man sah, ein Schlauchboot, Treibgut oder bloß ein Fischschwarm war, hätten er und die übrigen Freiwilligen stundenlang mit dem Fernglas das Meer bis zum Horizont beobachtet - immer auf der Suche nach Flüchtlingsbooten.
„Wir haben Menschen von einem Boot gerettet, das bereits seit 16 Stunden auf dem Wasser war. Selbst wenn das Boot um Mitternacht von den Schleppern losgeschickt wurde - diese Menschen waren unzählige Stunden bei 35 oder 40 Grad ungeschützt der prallen Sonne ausgesetzt. Da ist man gar.“ Erschütternd: In der Bootsmitte, wo es vermeintlich am sichersten ist, und wo deshalb meist die Frauen sitzen, lagen in dem Boot 22 Leichen im bereits kniehoch stehenden Wasser - 21 junge Frauen zwischen 16 und 26 und ein Mann. Grund für ihren Tod war ein gefährliches Gemisch aus Salzwasser und dem aus den Kanistern schwappenden Kraftstoff, der in der Bootsmitte gelagert wird. Die beißenden Dämpfe führen zur Ohnmacht und zum unweigerlichen Ertrinken im Boot.
Andreas Siegert: Wir haben die Überlebenden und die Toten an Bord der Aquarius gebracht
„Wir haben die Überlebenden und die Toten an Bord der Aquarius gebracht und haben uns zurück auf den Weg nach Messina auf Sizilien gemacht.“ Für die Geflüchteten habe man an Deck Duschen und Toiletten gehabt. Sie hätten vom Team dünne weiße Overalls und etwas zu essen bekommen. „Ich habe noch nie so erschöpfte Menschen gesehen“, sagte Siegert. Doch nach einer Nacht voll Schlaf und etwas zu essen habe man in den Augen der Menschen wieder so etwas wie ein Leuchten sehen können. „Weil sie sich in Sicherheit fühlten und wieder Hoffnung schöpften.“
Die von der „Aquarius“ geretteten Menschen kamen zumeist aus Nord- und Westafrika. Eigentlich wollten sie in Europa nur arbeiten. „Sie wollen aus dem gleichen Grund nach Europa, aus dem Deutsche nach Schweden auswandern“, sagt Siegert. „Diese Menschen gehören gar nicht ins Asylverfahren.“ Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler aus Alberstedt (Weida-Land), der Dozent an der Fachhochschule für Ökonomie und Management in Berlin und der Uni Potsdam ist, beschäftigt sich seit Jahren mit Flüchtlingsthemen. Zuletzt mit einer Studie darüber, wie durch Einwanderung und eine Novellierung des Asylrechts der demografische Wandel in Deutschland verlangsamt werden könnte. „Wir müssen Wege finden, legale Einwanderung nach Europa zu ermöglichen. Ganz ehrlich - wenn es die Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer nicht gäbe - irgendwann würden die Leichen dieser Menschen unweigerlich an den europäischen Stränden landen.“
Andreas Siegert: Migranten, die nach Libyen kommen, werden willkürlich gefangen genommen
Ein Mitarbeiter von Amnesty International habe ihm erzählt, in welcher Situation sich die afrikanischen Flüchtlinge in Libyen befinden. „Die Migranten, die nach Libyen kommen, werden willkürlich gefangen genommen und in Lager gesteckt, wo sie Gewalt und Folter ausgesetzt sind. Ihre Familien werden aufgefordert eine bestimmte Summe zu zahlen. Erst dann gelangen sie auf die Boote nach Europa“, so Siegert. Rund 330.000 Menschen haben in diesem Jahr bereits versucht, das Mittelmeer in Schlauchbooten zu überqueren. Rund 4.000 sind dabei gestorben. Siegert: „Von Marinesoldaten, die ebenfalls auf Schiffen im Mittelmeer unterwegs sind, haben wir gehört, dass sie froh sind, dass es zivile Rettungsschiffe wie die Aquarius gibt, weil sie persönlich nicht über das Elend auf dem Wasser berichten dürfen.“
Die MS „Aquarius“ ist ein hochseetüchtiges ehemaliges Fischereischutzboot von 77 Metern Länge. Es hat zwei schnelle Rettungsboote und eine vollständige Ausrüstung für Seenotrettung an Bord. Es kann eigentlich nur bis zu 400 Menschen aufnehmen, meist sind es aber über 600. Die ganz internationale Mannschaft besteht aus zwölf Seeleuten, zehn Freiwilligen vom Such- und Rettungsteam, für das sich auch Siegert beworben hatte, und zehn Vertretern von Ärzte ohne Grenzen. Die Betriebskosten des Schiffes betragen 11.000 Euro pro Tag, die ausschließlich durch Spenden zusammenkommen - von Privatpersonen aus Europa, aber auch von große Firmen.
„Ich würde nochmal auf die Aquarius gehen“, ist das Resümee von Andreas Siegert. „Nicht gleich nächstes Jahr, aber irgendwann.“ (mz)